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CRUISER Januar Februar 2024

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cruiserSEIT 1986 DAS ÄLTESTE QUEERE MAGAZIN DER SCHWEIZ – JANUAR / FEBRUAR 2024 CHF 8.104 Techno Vom Tanz ins Museum14 Schwul in Japan Wenig Toleranz im Land der aufgehenden Sonne18 Verfolgung Stolpersteine für GaysKUNST, KULTUR & LEBENSSTIL FÜR DIE LGBT*-COMMUNITY

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TICKETS, INFOS & MEHR: WWW.GOODNEWS.CH4 KULTUR TECHNO-AUSSTELLUNG10 TECHNO INTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANN12 STREAMING-TIPP TRUE DETECTIVE14 AUSLAND GAYS IN JAPAN17 KOLUMNE MICHI RÜEGG18 VERFOLGUNG STOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLE22 KULTUR SCHAUSPIELHAUS24 SERIE HOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATUR27 KULTUR BUCHTIPP JANUAR28 KULTUR KINOTIPP30 GESELLSCHAFT SICHERE RÄUME FÜR SCHWULE33 KULTUR BUCHTIPP FEBRUAR34 RATGEBER DR. GAY EDITORIALLiebe Lesende! Das hier ist der erste Cruiser im neuen Jahr. 2024 ist noch frisch und wir freuen uns auf das, was da kommen wird. Wir haben im vergangenen Jahr viel erreicht, aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, denn es gibt noch viel zu tun, um die Diskri-minierung und Gewalt gegen LGBT*-Personen in allen Lebensbereichen zu beenden. Denn wir sind nicht allein. Wir sind Teil einer globalen Bewegung, die für die Menschen-rechte und die Würde aller Menschen eintritt. Noch lange nicht sind wir in Sachen Akzeptanz am Ziel: Ein Beispiel dafür ist Japan, wo gleichgeschlechtliche Paare immer noch keine rechtliche Anerkennung oder Schutz geniessen. Obwohl die japanische Gesell-schaft zunehmend toleranter und offener wird, gibt es noch viele Hürden und Widerstände, die eine echte Gleichstellung verhindern. Das zeigt sich auch in der jüngsten Gerichtsent-scheidung, die das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe bestätigt, aber gleichzeitig die Abwesenheit rechtlicher Regelungen für gleichgeschlechtliche Paare als verfassungswidrig bezeichnet. Dies ist ein Hoffnungsschimmer, aber noch kein Durchbruch. Auf den Seiten 14 bis 16 gibt es mehr zur «Problematik (oder weniger hart formuliert: Thematik) Japan». Dass ein Nebeneinander und ein Miteinander möglich ist, hat sich – vor allem in Zürich – bereits in den 1980er-Jahren gezeigt. Damals kam Techno auf. Von der Subkultur zum Massenphänomen, ganz ohne Internet. Egal, welche Sexualität, welcher Status, welche Hautfarbe: Bei Techno wurden alle eins. Wir beleuchten in unserer Titelgeschichte ausführlich, was damals passiert ist und ob ein solches «Miteinander» auch losgelöst von der Technoszene möglich ist. Impulse dazu gibt es ab Seite 4.Liebe Lesende, wir laden euch ein, mit uns das Jahr 2024 zu einem Jahr der Solidarität, des Dialogs und der Freude zu machen. Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben, und wir sind bereit für das, was noch kommt. Wir sind bunt, wir sind laut, wir sind hier. Wir sind LGBT*.Herzlich; Euer RedaktionsteamCRUISER MAGAZIN PRINTISSN 1420-214x (1986 – 1998) | ISSN 1422-9269 (1998 – 2000) | ISSN 2235-7203 (Ab 2000) Herausgeber & Verleger medienHay GmbHInfos an die Redaktion redaktion@cruisermagazin.chChefredaktor Haymo Empl Stv. Chefredaktorin Birgit Kawohl Bildredaktion Haymo Empl, Astrid Affolter. Alle Bilder mit Genehmigung der Urheber*innen.Art Direktion Astrid AffolterAgenturen SDA, KeystoneAutor*innen Vinicio Albani, Haymo Empl, Christian Felix, Valeria Heintges, Michael Heitmann, Birgit Kawohl, Ernst Ostertag, Michi Rüegg, Alain Sorel, Peter ThommenKorrektorat | Lektorat Birgit KawohlAnzeigen anzeigen@cruisermagazin.chChristina Kipshoven | Telefon +41 (0)31 534 18 30Druck werk zwei Print+Medien Konstanz GmbHREDAKTION UND VERLAGSADRESSECruiser | Clausiusstrasse 42, 8006 Zürichredaktion@cruisermagazin.chHaftungsausschluss, Gerichtsstand und weiterführende Angaben auf www.cruisermagazin.ch Der nächste Cruiser erscheint am 1. März 2024Unsere Kolumnist*innen widerspiegeln nicht die Meinung der Redaktion. Sie sind in der Themenwahl, politischer /religiöser Gesinnung sowie der Wortwahl im Rahmen der Gesetzgebung frei. Wir vom Cruiser setzen auf eine grösst mögliche Diversität in Bezug auf Gender und Sexualität sowie die Auseinandersetzung mit diesen Themen. Wir vermeiden darum sprachliche Eingriffe in die Formulierungen unserer Autor*innen. Die von den Schreibenden gewählten Bezeichnungen können daher zum Teil von herkömmlichen Schreibweisen abweichen. Geschlechtspronomen werden ent spre chend implizit eingesetzt, der Oberbegriff Trans* beinhaltet die ent- sprechenden Bezeichnungen gemäss Medienguide «Transgender Network Schweiz».Cruiser wurde als einzige LGBT*-Publikation als «kulturell relevant» eingestuft und wird daher in der Schweize rischen Nationalbibliothek, der ZB Zürich sowie in der deutschen Nationalbibliothek archi viert. Cruiser ist zudem via SMD (schweizerische Mediendatenbank) allen Medienschaffenden zugänglich.ANZEIGESam und Geoffrey haben sich gesucht und gefunden und haben Spass miteinander, egal ob am Strand oder im Schnee(sturm). IMPRESSUM

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TICKETS, INFOS & MEHR: WWW.GOODNEWS.CH4 KULTUR TECHNO-AUSSTELLUNG10 TECHNO INTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANN12 STREAMING-TIPP TRUE DETECTIVE14 AUSLAND GAYS IN JAPAN17 KOLUMNE MICHI RÜEGG18 VERFOLGUNG STOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLE22 KULTUR SCHAUSPIELHAUS24 SERIE HOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATUR27 KULTUR BUCHTIPP JANUAR28 KULTUR KINOTIPP30 GESELLSCHAFT SICHERE RÄUME FÜR SCHWULE33 KULTUR BUCHTIPP FEBRUAR34 RATGEBER DR. GAY EDITORIALLiebe Lesende! Das hier ist der erste Cruiser im neuen Jahr. 2024 ist noch frisch und wir freuen uns auf das, was da kommen wird. Wir haben im vergangenen Jahr viel erreicht, aber wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, denn es gibt noch viel zu tun, um die Diskri-minierung und Gewalt gegen LGBT*-Personen in allen Lebensbereichen zu beenden. Denn wir sind nicht allein. Wir sind Teil einer globalen Bewegung, die für die Menschen-rechte und die Würde aller Menschen eintritt. Noch lange nicht sind wir in Sachen Akzeptanz am Ziel: Ein Beispiel dafür ist Japan, wo gleichgeschlechtliche Paare immer noch keine rechtliche Anerkennung oder Schutz geniessen. Obwohl die japanische Gesell-schaft zunehmend toleranter und offener wird, gibt es noch viele Hürden und Widerstände, die eine echte Gleichstellung verhindern. Das zeigt sich auch in der jüngsten Gerichtsent-scheidung, die das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe bestätigt, aber gleichzeitig die Abwesenheit rechtlicher Regelungen für gleichgeschlechtliche Paare als verfassungswidrig bezeichnet. Dies ist ein Hoffnungsschimmer, aber noch kein Durchbruch. Auf den Seiten 14 bis 16 gibt es mehr zur «Problematik (oder weniger hart formuliert: Thematik) Japan». Dass ein Nebeneinander und ein Miteinander möglich ist, hat sich – vor allem in Zürich – bereits in den 1980er-Jahren gezeigt. Damals kam Techno auf. Von der Subkultur zum Massenphänomen, ganz ohne Internet. Egal, welche Sexualität, welcher Status, welche Hautfarbe: Bei Techno wurden alle eins. Wir beleuchten in unserer Titelgeschichte ausführlich, was damals passiert ist und ob ein solches «Miteinander» auch losgelöst von der Technoszene möglich ist. Impulse dazu gibt es ab Seite 4.Liebe Lesende, wir laden euch ein, mit uns das Jahr 2024 zu einem Jahr der Solidarität, des Dialogs und der Freude zu machen. Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben, und wir sind bereit für das, was noch kommt. Wir sind bunt, wir sind laut, wir sind hier. Wir sind LGBT*.Herzlich; Euer RedaktionsteamCRUISER MAGAZIN PRINTISSN 1420-214x (1986 – 1998) | ISSN 1422-9269 (1998 – 2000) | ISSN 2235-7203 (Ab 2000) Herausgeber & Verleger medienHay GmbHInfos an die Redaktion redaktion@cruisermagazin.chChefredaktor Haymo Empl Stv. Chefredaktorin Birgit Kawohl Bildredaktion Haymo Empl, Astrid Affolter. Alle Bilder mit Genehmigung der Urheber*innen.Art Direktion Astrid AffolterAgenturen SDA, KeystoneAutor*innen Vinicio Albani, Haymo Empl, Christian Felix, Valeria Heintges, Michael Heitmann, Birgit Kawohl, Ernst Ostertag, Michi Rüegg, Alain Sorel, Peter ThommenKorrektorat | Lektorat Birgit KawohlAnzeigen anzeigen@cruisermagazin.chChristina Kipshoven | Telefon +41 (0)31 534 18 30Druck werk zwei Print+Medien Konstanz GmbHREDAKTION UND VERLAGSADRESSECruiser | Clausiusstrasse 42, 8006 Zürichredaktion@cruisermagazin.chHaftungsausschluss, Gerichtsstand und weiterführende Angaben auf www.cruisermagazin.ch Der nächste Cruiser erscheint am 1. März 2024Unsere Kolumnist*innen widerspiegeln nicht die Meinung der Redaktion. Sie sind in der Themenwahl, politischer /religiöser Gesinnung sowie der Wortwahl im Rahmen der Gesetzgebung frei. Wir vom Cruiser setzen auf eine grösst mögliche Diversität in Bezug auf Gender und Sexualität sowie die Auseinandersetzung mit diesen Themen. Wir vermeiden darum sprachliche Eingriffe in die Formulierungen unserer Autor*innen. Die von den Schreibenden gewählten Bezeichnungen können daher zum Teil von herkömmlichen Schreibweisen abweichen. Geschlechtspronomen werden ent spre chend implizit eingesetzt, der Oberbegriff Trans* beinhaltet die ent- sprechenden Bezeichnungen gemäss Medienguide «Transgender Network Schweiz».Cruiser wurde als einzige LGBT*-Publikation als «kulturell relevant» eingestuft und wird daher in der Schweize rischen Nationalbibliothek, der ZB Zürich sowie in der deutschen Nationalbibliothek archi viert. Cruiser ist zudem via SMD (schweizerische Mediendatenbank) allen Medienschaffenden zugänglich.ANZEIGESam und Geoffrey haben sich gesucht und gefunden und haben Spass miteinander, egal ob am Strand oder im Schnee(sturm). IMPRESSUM

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4 5CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNGTechno – Von der Partyins MuseumVON CHRISTIAN FELIXDer grosse Bumbum landete in Zü-rich, als käme er von einem anderen Planeten. Rückblickend erinnert sich jede*r anders an den Ausbruch des Technoebers in der Stadt. Viele Geschich-ten beginnen mit: «Ich kam 199x nach Zü-rich...» In den frühen 90er-Jahren zurück aus Barcelona in Zürich. Vor den Augen das Bild eines Kumpels. Er, Flugbegleiter, ist nicht wiederzuerkennen: Auf seinem schwarzen T-Shirt grinsen gelbe Smilys, um den Hals ein zusammengerolltes Tuch, aus der Kehle ein Schrei: «Aciiiiiiiiid!!!» Was geht da ab in Zürich?Techno als Musikrichtung hat Vorläu-fer. Acid und Detroit Techno stehen bereits auf der Schwelle zu Techno. Wenn man weit zurückgeht, stösst man auf «Popcorn», 1972, das erste Stück Elektromusik der Geschich-te. Da ist bereits viel Techno drin. Die elekt-ronische Musik entwickelt sich auf einem Seitenstrang der Musikwelt weiter – Jean Michel Jarre zum Beispiel. Die 1980er-Jahre bringen neue Rhythmen und Stimmen – programmatisch singt Grace Jones 1985 «Slave To Rhythm». Dann taucht Punk auf, später House. Beides wirkt auf die Elektro-Musik ein. Doch die Musikgeschichte allein erklärt Techno nicht. Nieder mit der MauerTechno fügt sich in eine Zeit. Ende 1989 fällt die Berliner Mauer. Die DDR, der Staat, den sie abriegelte, geht unter. Das schat in Ber-lin Raum für Clubs. Zürich wird derweil von einer Wirtschaftskrise gebeutelt. Die Folge auch hier: Raum für Clubs. Zuvor war das Deutschschweizer Metropölchen grau und freudlos. Ab 1980 rennt eine verzweifelte Ju-gend gegen die beengenden Verhältnisse an: Platz ist nur für Kommerz, Vorschriften und Verbote gibt es dafür bis zum Geht-nichtmehr. Die Immobilienspekulation lässt nicht mal Raum, um in der Stadt über-haupt noch zu wohnen. ➔2024 muss es als Wunder erscheinen, welchen Hype Techno in Zürich zwischen 1994 und 2006 erlebte. Heute kommt Techno ins Museum.In den Anfangsjahren staunten viele nicht schlecht ob der «bunten Vögel» auf den Strassen und den da-zugehörigen ungewohnten Klängen. Techno war auf jeden Fall ein Hingucker. Bilder © Sozialarchiv

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4 5CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNGTechno – Von der Partyins MuseumVON CHRISTIAN FELIXDer grosse Bumbum landete in Zü-rich, als käme er von einem anderen Planeten. Rückblickend erinnert sich jede*r anders an den Ausbruch des Technoebers in der Stadt. Viele Geschich-ten beginnen mit: «Ich kam 199x nach Zü-rich...» In den frühen 90er-Jahren zurück aus Barcelona in Zürich. Vor den Augen das Bild eines Kumpels. Er, Flugbegleiter, ist nicht wiederzuerkennen: Auf seinem schwarzen T-Shirt grinsen gelbe Smilys, um den Hals ein zusammengerolltes Tuch, aus der Kehle ein Schrei: «Aciiiiiiiiid!!!» Was geht da ab in Zürich?Techno als Musikrichtung hat Vorläu-fer. Acid und Detroit Techno stehen bereits auf der Schwelle zu Techno. Wenn man weit zurückgeht, stösst man auf «Popcorn», 1972, das erste Stück Elektromusik der Geschich-te. Da ist bereits viel Techno drin. Die elekt-ronische Musik entwickelt sich auf einem Seitenstrang der Musikwelt weiter – Jean Michel Jarre zum Beispiel. Die 1980er-Jahre bringen neue Rhythmen und Stimmen – programmatisch singt Grace Jones 1985 «Slave To Rhythm». Dann taucht Punk auf, später House. Beides wirkt auf die Elektro-Musik ein. Doch die Musikgeschichte allein erklärt Techno nicht. Nieder mit der MauerTechno fügt sich in eine Zeit. Ende 1989 fällt die Berliner Mauer. Die DDR, der Staat, den sie abriegelte, geht unter. Das schat in Ber-lin Raum für Clubs. Zürich wird derweil von einer Wirtschaftskrise gebeutelt. Die Folge auch hier: Raum für Clubs. Zuvor war das Deutschschweizer Metropölchen grau und freudlos. Ab 1980 rennt eine verzweifelte Ju-gend gegen die beengenden Verhältnisse an: Platz ist nur für Kommerz, Vorschriften und Verbote gibt es dafür bis zum Geht-nichtmehr. Die Immobilienspekulation lässt nicht mal Raum, um in der Stadt über-haupt noch zu wohnen. ➔2024 muss es als Wunder erscheinen, welchen Hype Techno in Zürich zwischen 1994 und 2006 erlebte. Heute kommt Techno ins Museum.In den Anfangsjahren staunten viele nicht schlecht ob der «bunten Vögel» auf den Strassen und den da-zugehörigen ungewohnten Klängen. Techno war auf jeden Fall ein Hingucker. Bilder © Sozialarchiv

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6 7CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024ANZEIGEWritten by TOBY MARLOW & LUCY MOSSKENNY WAX, WENDY & ANDY BARNES AND GEORGE STILES IN ASSOCIATION WITH BB PROMOTION GMBH AND FBM ENTERTAINMENT PRESENTBB Promotion GmbH und spotlight musicals GmbH in Zusammenarbeit mit FBM Entertainment präsentieren15. – 23. März 2024 Theater 11 ZürichNur noch bis 10. März 2024 Theater 11 Zürich09. – 21. April 2024 Theater 11 Zürichmusical.chERLEBE EINMALIGE EMOTIONENAnfang der 1990er scheint auch in Zü-rich eine Mauer zu fallen, wenn auch eine unsichtbare. Der plötzliche Freiraum wirkt schockartig. Was machen wir jetzt mit die-sem Platz – ganze Büroetagen, Gewerbe-betriebe, Lagerhallen? Ganz einfach, Bars, Partys, Clubs. Und viel Kunst. Ohne Bewil-ligung. Die oene Drogenszene im Letten nimmt die Polizei zu sehr in Anspruch, als dass sie sich nachts noch um die neue Szene kümmern könnte. Zynisch gesagt, die neue Freiheit ist auch den Junkies von der oenen Drogenszene am Letten zu verdanken.Dann der Gedanke: Wenn schon Platz, dann nehmen wir uns gleich auch die Stras-se. Wie die 1980er-Bewegung mit ihren De-mos. Und wie die Berliner. 1992 zieht die erste Street Parade durch Zürich. Tausend mischen sich die Szenen und die Musikstile. Die Clubbetreiber investieren viel Gratisar-beit in die Gestaltung ihrer Lokale. Die Ein-tritte sind für alle erschwinglich. Der Kom-merz steht wenigstens in den Anfangsjahren nicht an erster Stelle. Das alles macht den Clubbesuch so entspannt, so easy, wie das Modewort der Zeit lautet. ***Nachts nach drei. In der Pngstweidstrasse über die Sicherheitsline gefahren und gewen-det, in eine enge Durchfahrt scharf abgebo-gen, erster Gang. Der Audi TT vor mir ist be-stimmt R. mit seinem Engländer. Rücklichter springen über Bremsschwellen, verschwin-den im Dunkeln. Autonummern aus Savo-yen, dem Elsass, Vorarlberg, Lindau und der ganzen Schweiz. Ein ungeteerter Parkplatz, Scheibe runter, der Parkwächter: «Park-wacht Schwammedinge, guete Morge…». – Ankunft im Labyrinth.***Raver tanzen mit. Ein Jahr später sind es 10000, Sven Väth und Dr. Motte legen auf, die Energy Party füllt das Hallenstadion. Dr. Motte hat die Love Parade in Berlin aufge-zogen. Zur selben Zeit entstehen die schwu-len Nachtclubs, die den Techno-Hype in Zürich mit anfachen.Hurra, wir leben noch!Das Nachtleben der 1990er prägen Neugier, Experimentierfreude und die Erwartung auf etwas, das kommen soll, mit der Jahr-tausendwende. In jener Zeit lernt sich die Szene kennen. Es entsteht ein Kitt zwischen den Techno-Fans. So um 1999 bricht die Ek-stase aus. Ausser spukige Voraussagen von Nostradamus steht gerade kein Weltunter-gang an. Die Sowjetunion ist weg, die Angst vor dem Atomkrieg verschwunden. Die Schwulen erwischen die perfekte Welle. Seit Mitte der 90er ist AIDS keine tödliche Krankheit mehr. Internet und Handys ver-netzen die ganze LGBT*-Welt miteinander. Die Wirtschaft entdeckt den Gay-Faktor als Messwert für attraktive Städte.In Kunst und Musik mischte Homose-xualität immer mit, wahrscheinlich schon in Höhlenmalereien der Steinzeit. Trotz-dem: Techno als Musikrichtung kommt aus der breiten Jugendkultur. Allerdings sprin-gen die Schwulen und auch viele Lesben Die Nacht erwacht Im Labyrinth dröhnen die Bässe ab 1993 in Kellern. Die Clubpartys wirken noch impro-visiert, eher studentisch. Aber die Rhythmen fahren ein. Nach zwei Jahren zieht der Club in eine Büroetage in der Baslerstrasse. Noch immer gibt es an der Bar nicht viel anderes zu trinken als Heineken-Bier in Dosen. Doch die Raumgestaltung ist einzigartig, psycho-delisch, provozierend, ein Stück Kunst. Der Darkroom ist halb hell und ausserdem ein Durchgangsraum. Auf einer riesigen Matrat-ze tummeln sich Männer mit Männern und Männer mit Frauen. Kurz darauf, 1996, geht nur wenige hundert Meter stadtauswärts das Aera auf (siehe Interview auf S. 10). Bereits zu dieser Zeit hat sich in den Clubs ein eigener Zürcher Groove eingestellt: In den Nächten schnell auf den Zug auf. Sie wollen feiern, jetzt endlich wie nie mehr später. Der grosse Bumbum, die Mode mit viel Haut, der neue Stil, Tattoos, sie passen zur Lebenssucht der Zeit. Snowboarder bringen Techno-Rhyth-men sogar in den Schnee. Das ist Zürich: Am Nachmittag Crap Sogn Gion (Laax), und nachts um drei…***Oben im Kreuzgang. Chill-out. Ein Fetter in genieteten Lederriemen, eine blondierte Schwarze mit einer Taille nicht umfang-reicher als die Oberarme der Muskelkerle, ein Verlorener, Goldrandbrille, in Hose und Hemd, schweissnass. «Do you love Zurich?! Do you love Zurich?!,» schreit K. einem blonden Sportler aus Skandinavien ins Ohr. Dieser macht sich nichts daraus, hat sich dieses «Zurich» aber doch etwas anders vor- gestellt. Unten trommelt der DJ, 138 Beats pro Minute.***Die offene Drogenszene im Letten nimmt die Polizei zu sehr in Anspruch, als dass sie sich nachts noch um die neue Szene kümmern könnte.➔Für viele das Grösste: Einmal auf einem Love-Mobil stehen. Hyper! Hyper!KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNG

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6 7CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024ANZEIGEWritten by TOBY MARLOW & LUCY MOSSKENNY WAX, WENDY & ANDY BARNES AND GEORGE STILES IN ASSOCIATION WITH BB PROMOTION GMBH AND FBM ENTERTAINMENT PRESENTBB Promotion GmbH und spotlight musicals GmbH in Zusammenarbeit mit FBM Entertainment präsentieren15. – 23. März 2024 Theater 11 ZürichNur noch bis 10. März 2024 Theater 11 Zürich09. – 21. April 2024 Theater 11 Zürichmusical.chERLEBE EINMALIGE EMOTIONENAnfang der 1990er scheint auch in Zü-rich eine Mauer zu fallen, wenn auch eine unsichtbare. Der plötzliche Freiraum wirkt schockartig. Was machen wir jetzt mit die-sem Platz – ganze Büroetagen, Gewerbe-betriebe, Lagerhallen? Ganz einfach, Bars, Partys, Clubs. Und viel Kunst. Ohne Bewil-ligung. Die oene Drogenszene im Letten nimmt die Polizei zu sehr in Anspruch, als dass sie sich nachts noch um die neue Szene kümmern könnte. Zynisch gesagt, die neue Freiheit ist auch den Junkies von der oenen Drogenszene am Letten zu verdanken.Dann der Gedanke: Wenn schon Platz, dann nehmen wir uns gleich auch die Stras-se. Wie die 1980er-Bewegung mit ihren De-mos. Und wie die Berliner. 1992 zieht die erste Street Parade durch Zürich. Tausend mischen sich die Szenen und die Musikstile. Die Clubbetreiber investieren viel Gratisar-beit in die Gestaltung ihrer Lokale. Die Ein-tritte sind für alle erschwinglich. Der Kom-merz steht wenigstens in den Anfangsjahren nicht an erster Stelle. Das alles macht den Clubbesuch so entspannt, so easy, wie das Modewort der Zeit lautet. ***Nachts nach drei. In der Pngstweidstrasse über die Sicherheitsline gefahren und gewen-det, in eine enge Durchfahrt scharf abgebo-gen, erster Gang. Der Audi TT vor mir ist be-stimmt R. mit seinem Engländer. Rücklichter springen über Bremsschwellen, verschwin-den im Dunkeln. Autonummern aus Savo-yen, dem Elsass, Vorarlberg, Lindau und der ganzen Schweiz. Ein ungeteerter Parkplatz, Scheibe runter, der Parkwächter: «Park-wacht Schwammedinge, guete Morge…». – Ankunft im Labyrinth.***Raver tanzen mit. Ein Jahr später sind es 10000, Sven Väth und Dr. Motte legen auf, die Energy Party füllt das Hallenstadion. Dr. Motte hat die Love Parade in Berlin aufge-zogen. Zur selben Zeit entstehen die schwu-len Nachtclubs, die den Techno-Hype in Zürich mit anfachen.Hurra, wir leben noch!Das Nachtleben der 1990er prägen Neugier, Experimentierfreude und die Erwartung auf etwas, das kommen soll, mit der Jahr-tausendwende. In jener Zeit lernt sich die Szene kennen. Es entsteht ein Kitt zwischen den Techno-Fans. So um 1999 bricht die Ek-stase aus. Ausser spukige Voraussagen von Nostradamus steht gerade kein Weltunter-gang an. Die Sowjetunion ist weg, die Angst vor dem Atomkrieg verschwunden. Die Schwulen erwischen die perfekte Welle. Seit Mitte der 90er ist AIDS keine tödliche Krankheit mehr. Internet und Handys ver-netzen die ganze LGBT*-Welt miteinander. Die Wirtschaft entdeckt den Gay-Faktor als Messwert für attraktive Städte.In Kunst und Musik mischte Homose-xualität immer mit, wahrscheinlich schon in Höhlenmalereien der Steinzeit. Trotz-dem: Techno als Musikrichtung kommt aus der breiten Jugendkultur. Allerdings sprin-gen die Schwulen und auch viele Lesben Die Nacht erwacht Im Labyrinth dröhnen die Bässe ab 1993 in Kellern. Die Clubpartys wirken noch impro-visiert, eher studentisch. Aber die Rhythmen fahren ein. Nach zwei Jahren zieht der Club in eine Büroetage in der Baslerstrasse. Noch immer gibt es an der Bar nicht viel anderes zu trinken als Heineken-Bier in Dosen. Doch die Raumgestaltung ist einzigartig, psycho-delisch, provozierend, ein Stück Kunst. Der Darkroom ist halb hell und ausserdem ein Durchgangsraum. Auf einer riesigen Matrat-ze tummeln sich Männer mit Männern und Männer mit Frauen. Kurz darauf, 1996, geht nur wenige hundert Meter stadtauswärts das Aera auf (siehe Interview auf S. 10). Bereits zu dieser Zeit hat sich in den Clubs ein eigener Zürcher Groove eingestellt: In den Nächten schnell auf den Zug auf. Sie wollen feiern, jetzt endlich wie nie mehr später. Der grosse Bumbum, die Mode mit viel Haut, der neue Stil, Tattoos, sie passen zur Lebenssucht der Zeit. Snowboarder bringen Techno-Rhyth-men sogar in den Schnee. Das ist Zürich: Am Nachmittag Crap Sogn Gion (Laax), und nachts um drei…***Oben im Kreuzgang. Chill-out. Ein Fetter in genieteten Lederriemen, eine blondierte Schwarze mit einer Taille nicht umfang-reicher als die Oberarme der Muskelkerle, ein Verlorener, Goldrandbrille, in Hose und Hemd, schweissnass. «Do you love Zurich?! Do you love Zurich?!,» schreit K. einem blonden Sportler aus Skandinavien ins Ohr. Dieser macht sich nichts daraus, hat sich dieses «Zurich» aber doch etwas anders vor- gestellt. Unten trommelt der DJ, 138 Beats pro Minute.***Die offene Drogenszene im Letten nimmt die Polizei zu sehr in Anspruch, als dass sie sich nachts noch um die neue Szene kümmern könnte.➔Für viele das Grösste: Einmal auf einem Love-Mobil stehen. Hyper! Hyper!KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNG

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8 9CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024ANZEIGEJETZT NUR IM KINO!Euro Circuit Party Berlin, Barcelona, London und ein paar an-dere Städte sind die Technometropolen Eu-ropas. Zürich gehört dazu. Die Stadt am See deckt das Einzugsgebiet von Stuttgart bis Mailand ab, von Lyon bis Innsbruck. Und na-türlich schleppen die Einheimischen ihre neuen Freunde aus allen Ländern der Welt mit an die Partynächte der Stadt. Es gibt auch die Clubs mit gemischtem Publikum, den Supermarket, Spider Galaxy, das Oxa. Die letzten beiden sind After Hours. Deren Club-nächte laufen bis Sonntagnachmittag. Sie bleibt lange legendär, jene Ansage mit beleg-ter Stimme aus dem Spider Galaxy: «Schöne Namittag mitenand.» Es ist die Zeit, in der viele von Stadt zu Stadt, von Club zu Club, von Party zu Party iegen. Den Kerl, den man in London trit, hat man doch erst vor Kurzem in Berlin kennengelernt. Und war er nicht auch schon im Aera? Umarmung, Kuss, und schon steht wieder ein anderer da. In der Schweiz gibt es neben Zürich vor allem in Lausanne eine Techno-Szene. Manchmal überraschen auch Kleinstädte mit Partys und Techno-Schuppen auf irgendeinem Ge-werbegelände. Zürich färbt ab.***R. tanzt auf der Klobrille, zieht dabei die Luft die Nase hoch. S. krümmt sich vor La-chen. Die Bässe draussen wuchten gegen die Trennwände. Jetzt raus. Das Klo ist proppen-voll, eine Sauna, Wasserhahn und Hand-föhn laufen ohne Unterlass, Pissoirs alle be-setzt, jetzt Start, ein Rauschen, in dem sich Rhythmus regt, zwei Intervalle – Take o! Arme iegen in die Lust, schrilles Gekreisch. Slave to rhythm.***Techno geht über Klang hinaus, formt sich zu Materie, Bewegung im Raum, Raum-Zeit, alles auf einen Punkt konzentriert, auf den Augenblick, der doch ewig dauert, Le-ben in Reinform als einziger Zweck des Da-seins.Pillen und Pülverchen Zu Techno gehören Drogen. Neu ist Ecstasy, sauber, billig, lustig und angeblich unge-fährlich. Das E passt gut zu Trance, Happy Trance, GLB macht die Männer schön. Wenn man es mit Alkohol kombiniert, kotzt man stundenlang. Speed hält wach, mit Ko-kain wird jeder zum König. Dazu wiederum härterer Sound, Minimal Techno, Progres-siv. Manche Partygänger planen genau, zu welchem Zeitpunkt in der Nacht welche Pil-le, welches Tröpfchen und welches Pulver fällig ist. Die Polizei tanzt sicher mit. Haben «TECHNO GEHÖRT INS MUSEUM»Unter diesem Titel zeigt die Photobastei Zürich zwei Ausstellungen begleitet von einer Veran-staltungsreihe.Die eine internationale Ausstellung mit dem Titel «Techno Worlds» hat das deutsche Goethe-institut gestaltet. Sie wurde schon in Montréal (Kanada) und São Paulo (Brasilien) gezeigt. Die Europa-Premiere findet in der Photobastei Zürich statt, dann zieht die Ausstellung nach Dresden weiter.Die zweite Ausstellung mit dem Titel «The Pulse Of Techno» richtet den Blick auf den Techno Hype in Zürich.Zu den Ausstellungen bietet die Photobastei eine Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Parties, Filmen und Gespräche. Ort: Photobastei, Sihlquai 125Zeit: 11. Januar bis 31. März 2024die verdeckten Fahnder vielleicht sogar ei-nen Member-Ausweis? Lange Zeit lässt die Polizei die Techno-Clubs in Ruhe. Zürich ist auch in dieser Zeit eine Stadt der Banken, der Teppichetagen, der Massanzüge, der herausgeputzten Ein-kaufsmeilen. Gibt es eine Einsicht, dass die-se Hochglanzstadt einen Untergrund und damit so etwas wie ein Unterbewusstsein braucht zum Ausgleich? Nein. Am Oster-sonntag 2007 kommt es zu einer Razzia im Labyrinth. Die Polizei ndet Drogen und teilt mit, es sei im Lokal wiederholt zur «Ver-letzung der öentlichen Ordnung und gu-ten Sitten» gekommen. Späte Einsicht. Der Club überlebt diesen Schlag nicht. Schon im Jahr zuvor hatte die Dachkantine dichtge-macht. Der Club in der Toni-Molkerei präg-te die spätere Phase des Zürcher Techno-Hypes. Ekstase reimt sich sinngemäss auf Orgasmus: Beides hält nicht ewig. Zwölf Jahre Techno-Hype in Zürich zeugen von Ausdauer.Die «Photobastei» bringt jetzt die Technokultur als Ausstellung ins Museum. Sie schreibt von der «letzten Jugendbewe-gung» (siehe Infobox). In den 2020er-Jahren haben sich die Ausgangsbedingungen für die Jugend ins Gegenteil verkehrt. Ein Welt-untergang gilt fast schon als sicher. Statt zu tanzen, klebt sich Jugend auf die Strasse. Ein besseres Bild für Erstarrung und De-pression gibt es nicht. Doch Depro hat mit Ekstase eines gemein: Sie hält nicht ewig. «Aciiiiiiiiid!!!» Berlin, Barcelona, London und ein paar andere Städte sind die Technometropolen Europas. Zürich gehört dazu. Die Stadt am See deckt das Einzugsgebiet von Stuttgart bis Mailand ab, von Lyon bis Innsbruck.Feiern kann sehr anstrengend sein, wie man an diesen jungen Menschen sieht. Nach dem Hype folgt für viele eine unendliche Müdigkeit.KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNG

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8 9CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024ANZEIGEJETZT NUR IM KINO!Euro Circuit Party Berlin, Barcelona, London und ein paar an-dere Städte sind die Technometropolen Eu-ropas. Zürich gehört dazu. Die Stadt am See deckt das Einzugsgebiet von Stuttgart bis Mailand ab, von Lyon bis Innsbruck. Und na-türlich schleppen die Einheimischen ihre neuen Freunde aus allen Ländern der Welt mit an die Partynächte der Stadt. Es gibt auch die Clubs mit gemischtem Publikum, den Supermarket, Spider Galaxy, das Oxa. Die letzten beiden sind After Hours. Deren Club-nächte laufen bis Sonntagnachmittag. Sie bleibt lange legendär, jene Ansage mit beleg-ter Stimme aus dem Spider Galaxy: «Schöne Namittag mitenand.» Es ist die Zeit, in der viele von Stadt zu Stadt, von Club zu Club, von Party zu Party iegen. Den Kerl, den man in London trit, hat man doch erst vor Kurzem in Berlin kennengelernt. Und war er nicht auch schon im Aera? Umarmung, Kuss, und schon steht wieder ein anderer da. In der Schweiz gibt es neben Zürich vor allem in Lausanne eine Techno-Szene. Manchmal überraschen auch Kleinstädte mit Partys und Techno-Schuppen auf irgendeinem Ge-werbegelände. Zürich färbt ab.***R. tanzt auf der Klobrille, zieht dabei die Luft die Nase hoch. S. krümmt sich vor La-chen. Die Bässe draussen wuchten gegen die Trennwände. Jetzt raus. Das Klo ist proppen-voll, eine Sauna, Wasserhahn und Hand-föhn laufen ohne Unterlass, Pissoirs alle be-setzt, jetzt Start, ein Rauschen, in dem sich Rhythmus regt, zwei Intervalle – Take o! Arme iegen in die Lust, schrilles Gekreisch. Slave to rhythm.***Techno geht über Klang hinaus, formt sich zu Materie, Bewegung im Raum, Raum-Zeit, alles auf einen Punkt konzentriert, auf den Augenblick, der doch ewig dauert, Le-ben in Reinform als einziger Zweck des Da-seins.Pillen und Pülverchen Zu Techno gehören Drogen. Neu ist Ecstasy, sauber, billig, lustig und angeblich unge-fährlich. Das E passt gut zu Trance, Happy Trance, GLB macht die Männer schön. Wenn man es mit Alkohol kombiniert, kotzt man stundenlang. Speed hält wach, mit Ko-kain wird jeder zum König. Dazu wiederum härterer Sound, Minimal Techno, Progres-siv. Manche Partygänger planen genau, zu welchem Zeitpunkt in der Nacht welche Pil-le, welches Tröpfchen und welches Pulver fällig ist. Die Polizei tanzt sicher mit. Haben «TECHNO GEHÖRT INS MUSEUM»Unter diesem Titel zeigt die Photobastei Zürich zwei Ausstellungen begleitet von einer Veran-staltungsreihe.Die eine internationale Ausstellung mit dem Titel «Techno Worlds» hat das deutsche Goethe-institut gestaltet. Sie wurde schon in Montréal (Kanada) und São Paulo (Brasilien) gezeigt. Die Europa-Premiere findet in der Photobastei Zürich statt, dann zieht die Ausstellung nach Dresden weiter.Die zweite Ausstellung mit dem Titel «The Pulse Of Techno» richtet den Blick auf den Techno Hype in Zürich.Zu den Ausstellungen bietet die Photobastei eine Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Parties, Filmen und Gespräche. Ort: Photobastei, Sihlquai 125Zeit: 11. Januar bis 31. März 2024die verdeckten Fahnder vielleicht sogar ei-nen Member-Ausweis? Lange Zeit lässt die Polizei die Techno-Clubs in Ruhe. Zürich ist auch in dieser Zeit eine Stadt der Banken, der Teppichetagen, der Massanzüge, der herausgeputzten Ein-kaufsmeilen. Gibt es eine Einsicht, dass die-se Hochglanzstadt einen Untergrund und damit so etwas wie ein Unterbewusstsein braucht zum Ausgleich? Nein. Am Oster-sonntag 2007 kommt es zu einer Razzia im Labyrinth. Die Polizei ndet Drogen und teilt mit, es sei im Lokal wiederholt zur «Ver-letzung der öentlichen Ordnung und gu-ten Sitten» gekommen. Späte Einsicht. Der Club überlebt diesen Schlag nicht. Schon im Jahr zuvor hatte die Dachkantine dichtge-macht. Der Club in der Toni-Molkerei präg-te die spätere Phase des Zürcher Techno-Hypes. Ekstase reimt sich sinngemäss auf Orgasmus: Beides hält nicht ewig. Zwölf Jahre Techno-Hype in Zürich zeugen von Ausdauer.Die «Photobastei» bringt jetzt die Technokultur als Ausstellung ins Museum. Sie schreibt von der «letzten Jugendbewe-gung» (siehe Infobox). In den 2020er-Jahren haben sich die Ausgangsbedingungen für die Jugend ins Gegenteil verkehrt. Ein Welt-untergang gilt fast schon als sicher. Statt zu tanzen, klebt sich Jugend auf die Strasse. Ein besseres Bild für Erstarrung und De-pression gibt es nicht. Doch Depro hat mit Ekstase eines gemein: Sie hält nicht ewig. «Aciiiiiiiiid!!!» Berlin, Barcelona, London und ein paar andere Städte sind die Technometropolen Europas. Zürich gehört dazu. Die Stadt am See deckt das Einzugsgebiet von Stuttgart bis Mailand ab, von Lyon bis Innsbruck.Feiern kann sehr anstrengend sein, wie man an diesen jungen Menschen sieht. Nach dem Hype folgt für viele eine unendliche Müdigkeit.KULTURTECHNO-AUSSTELLUNGKULTURTECHNO-AUSSTELLUNG

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10 11CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024TECHNOINTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANNTECHNOINTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANNTechnomekka in der Farbfabrik – «In den Augen der Stadtwar das Aera illegal»Denkt man Techno, kommt man (in Zürich) nicht um Willy Bühlmann herum. Cruiser hatte die Gelegenheit, mit der Legende zu sprechen.INTERVIEW VON CHRISTIAN FELIXWilly Bühlmann stammt aus dem Lu-zernischen, an der Grenze zu den Kantonen Aargau und Bern. Nach einer Ausbildung zum Psychiatriepeger kam er 1990 nach Zürich. Hier organisierte er zunächst Partys, erönete dann 1996 seinen eigenen Club: das Aera. Als einziger Club aus dem Zürcher Techno-Hype um die Jahrtau-sendwende feiert das Aera bis heute regel-mässige eine Auferstehung. Dies an den Blu-menpartys im Hive, die Willy organisiert. Willy erinnert sich an das legendäre Aera.Christian Felix: Willy, welche Art von Techno spielte das Aera?Willy Bühlmann: Das war oft Progressiv, et-was Goa, einiges an Trance. Wir haben vie-les ausprobiert und damit unser schwules Publikum manchmal auch überfordert. Viele schwu le Gäste wollten einfach mit Technotrance abtanzen. Zum Glück hatten wir teilweise einen zweiten Danceoor, da konnten wir die verschiedensten Stilrich-tungen bieten, von Latino bis Schlager mit DJ Wollana.Wer waren die DJs im Aera? Zunächst boten wir Freunden und Bekann-ten die Möglichkeit aufzulegen. Aber mit der Zeit kamen auch die grossen Namen: Ricardo Villalobos (Chile, Deutschland), Kalkbrenner (D) und Sven Väth (D). Als Sven auegte, mochte er gar nicht mehr aufhören, spielte bis weit in den Morgen, liess sogar seinen Flug nach Frankfurt sau-sen. Die anderen DJs wollten natürlich auch ran, aber ich musste sie abwimmeln: «Das geht jetzt einfach nicht. Sven Väth, das ist der König.»Was sagst du zur Musik heute?Der Sound in den Clubs ist immer noch gut. Aber es gibt in Zürich nicht mehr dieselbe Vielfalt an Lokalen wie damals um die Jahr-tausendwende. Techno ist keine Massenbe-wegung mehr. Neues gibt es kaum noch. Wer hat das Aera damals gegründet?Das Aera habe ich fast allein aufgezogen: Ich hatte aber ein riesiges Umfeld, das mich unterstützte. Nur so ist es mir gelungen, das Aera aufzuziehen. Dort war ich Mädchen für alles. In den Clubnächten habe ich mit den Gästen gefeiert, mich um sie geküm-mert, auch wenn es einem Mal schlecht ging. Das brachte auch mein Pegeberuf mit sich. Manchmal hiess es: «Willy, da hat einer gekotzt.» Also wischte ich auf. Wie konnte es gelingen, in jener Zeit einfach einen Club aufzumachen? Das Aera gab es zwischen 1996 und 2004. Ich suchte zuerst ein Lokal und habe es im Labitzke-Areal gefunden. Das war eine ehe-malige Farbfabrik. Die Miete betrug 7500 Franken im Monat. Ich musste 25 000 Fran-ken Mietdepot zahlen. So viel Geld hatte ich nicht. Ein wohlhabender Privatmann hat mir die Summe vorgeschossen. Als Club war das Aera illegal, mindestens in den Au-gen der Stadt. Ich habe Zehntausende von Franken Bussen bezahlt. Nach kantonalem Recht jedoch durfte ich den Club führen. So gab es einen langen Rechtsstreit, der klären sollte, welche Rechtauassung für das La-bitzke-Areal nun galt. Schliesslich bin ich direkt auf die damalige Stadträtin Ursula Koch zugegangen. Das Gespräch brachte Entspannung in die Sache.Es gab ja noch andere Nutzer der ehemaligen Farbfabrik.Es gab z. B. noch einen Albanerverein. Und auch ein muslimischer Betraum. Zudem gab es einen Bewohner. Mit ihm mussten wir uns absprechen, wenn wir den zweiten Dance-Floor önen wollten.War das dieser geniale Raum, aus dem man weit auf Gleislandschaft in Altstetten blicken konnte?Ja.Was alle fasziniert, war die Modelleisenbahn, die den Wänden entlang. Wir haben mal eine Spiel-Party gemacht. Die Eisenbahn war ein Überbleibsel davon. Sie lief manchmal nicht. Dann kamen sofort die Gäste auf mich zu: «Warum fährt das Bähnchen nicht?» Das Nikotin in der Luft hatte sich auf die elektrischen Schienen ge-legt. Ich musste sie immer wieder von der Ablagerung befreien. Damals rauchte man noch in den Clubs. Das gehörte auch irgend-wie zur Atmosphäre. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es auch einen Darkroom für Sex.Ja. Selbst wollte ich nie einen Darkroom ein-richten. Es war aber der dringende Wunsch von einem Teil der Gäste.Wie hast du die Stimmung im Club empfunden, als er sich mehr und mehr füllte?Ich fand es schön, dass es im Aera keine strenge Trennung zwischen Freunden, Gäs-ten und Angestellten gab. Das war eine Aus-zeichnung für den Club. Die Gäste fühlten sich beteiligt. So brauchten wir nie eine Se-curity. Die soziale Kontrolle funktionierte. Bald fand das Aera einen Platz im schwulen Nachtleben und in der Technoszene. Viele unserer Gäste kamen samstags zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, dann wechselten sie ins Labyrinth. Andere blie-ben im Aera, wieder andere tanzten nur im Labyrinth. Der Freitag gehörte ganz uns. Dann besuchten auch viele Heteros den Club. Da konnte man oft eher die echten Aera-Schwingungen erleben als am Sams-tag, gerade auch bei der Musik.Von wegen sozialer Kontrolle: Techno hatte auch mit Drogen zu tun. Wie hast das im Aera erlebt?Neu in den 1990ern war Ecstasy. Ich kam ja aus der Psychiatrie und wusste, dass man den Inhaltssto von E (mdma) therapeu-tisch nutzte. Das war nie ein Problem für das Aera. Dann kam GBL hinzu. Das war arg. Immer wieder sackte jemand halb be-wusstlos zusammen, weil er zu viel von dem Zeug geschluckt hatte. Das kam oft ein bis zwei Mal die Woche vor. Wir mussten je-weils die Ambulanz rufen. Es gab dann wel-che, die aus dem Krankenbett zurückka-men und wieder in den Club wollten. Da sagte ich jedes Mal: «Genug für heute!»Irgendwann kam auch immer mehr Kokain in die Szene. Im Aera war nach meinem Gefühl Kokain wenig präsent. Gerade wegen der halb pri-vaten Atmosphäre kamen die Dealer kaum zu uns oder waren wenigstens nicht sicht-bar. Im Jahr 2004 hatten wir aber plötzlich keine Gäste mehr. Eine Nacht in der «Dach-kantine» mit ihrer Terrasse über den Dä-chern der Stadt machte mir sofort klar, dass die Szene in dieses Lokal in der ehemaligen Toni-Molkerei gezogen war. Mir war sofort klar: Die Aera-Zeit ist vorbei. Ich machte meinen Club zu. Dafür organisierte ich schwule Partys in der Dachkantine. Ich hol-te die Truppe «Dunst» aus Kopenhagen in den Club. Die waren krass drauf. Die Club-besucher reagierten fasziniert bis scho-ckiert. Der Wahnsinn erreichte einen neuen Höhepunkt. Um auf deine Frage zu kom-men: In der Dachkantine übertrieben es ei-nige Gäste mit dem Drogenkonsum. Es ging zu weit. Als der Club 2006 schloss, mischte sich in die Trauer auch Erleichterung. Das war das Ende des schwulen Techno-Hypes in Zürich.So habe ich das auch empfunden. Und heute?Heute betreue ich im Dienst der Stadt Zürich Menschen, die durch alle sozialen Netze ge-fallen sind. Willy Bühlmann hat den Club Aera zur Legende gemacht - und ist mittlerweile selbst zur Legende geworden.Ich fand es schön, dass es im Aera keine strenge Trennung zwischen Freunden, Gästen und Angestellten gab. Das war eine Auszeichnung für den Club. Die Gäste fühlten sich beteiligt.Als Sven auflegte, mochte er gar nicht mehr aufhören, spielte bis weit in den Morgen, liess sogar seinen Flug nach Frank-furt sausen.Bild © Christian Felix

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10 11CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024TECHNOINTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANNTECHNOINTERVIEW MIT WILLY BÜHLMANNTechnomekka in der Farbfabrik – «In den Augen der Stadtwar das Aera illegal»Denkt man Techno, kommt man (in Zürich) nicht um Willy Bühlmann herum. Cruiser hatte die Gelegenheit, mit der Legende zu sprechen.INTERVIEW VON CHRISTIAN FELIXWilly Bühlmann stammt aus dem Lu-zernischen, an der Grenze zu den Kantonen Aargau und Bern. Nach einer Ausbildung zum Psychiatriepeger kam er 1990 nach Zürich. Hier organisierte er zunächst Partys, erönete dann 1996 seinen eigenen Club: das Aera. Als einziger Club aus dem Zürcher Techno-Hype um die Jahrtau-sendwende feiert das Aera bis heute regel-mässige eine Auferstehung. Dies an den Blu-menpartys im Hive, die Willy organisiert. Willy erinnert sich an das legendäre Aera.Christian Felix: Willy, welche Art von Techno spielte das Aera?Willy Bühlmann: Das war oft Progressiv, et-was Goa, einiges an Trance. Wir haben vie-les ausprobiert und damit unser schwules Publikum manchmal auch überfordert. Viele schwu le Gäste wollten einfach mit Technotrance abtanzen. Zum Glück hatten wir teilweise einen zweiten Danceoor, da konnten wir die verschiedensten Stilrich-tungen bieten, von Latino bis Schlager mit DJ Wollana.Wer waren die DJs im Aera? Zunächst boten wir Freunden und Bekann-ten die Möglichkeit aufzulegen. Aber mit der Zeit kamen auch die grossen Namen: Ricardo Villalobos (Chile, Deutschland), Kalkbrenner (D) und Sven Väth (D). Als Sven auegte, mochte er gar nicht mehr aufhören, spielte bis weit in den Morgen, liess sogar seinen Flug nach Frankfurt sau-sen. Die anderen DJs wollten natürlich auch ran, aber ich musste sie abwimmeln: «Das geht jetzt einfach nicht. Sven Väth, das ist der König.»Was sagst du zur Musik heute?Der Sound in den Clubs ist immer noch gut. Aber es gibt in Zürich nicht mehr dieselbe Vielfalt an Lokalen wie damals um die Jahr-tausendwende. Techno ist keine Massenbe-wegung mehr. Neues gibt es kaum noch. Wer hat das Aera damals gegründet?Das Aera habe ich fast allein aufgezogen: Ich hatte aber ein riesiges Umfeld, das mich unterstützte. Nur so ist es mir gelungen, das Aera aufzuziehen. Dort war ich Mädchen für alles. In den Clubnächten habe ich mit den Gästen gefeiert, mich um sie geküm-mert, auch wenn es einem Mal schlecht ging. Das brachte auch mein Pegeberuf mit sich. Manchmal hiess es: «Willy, da hat einer gekotzt.» Also wischte ich auf. Wie konnte es gelingen, in jener Zeit einfach einen Club aufzumachen? Das Aera gab es zwischen 1996 und 2004. Ich suchte zuerst ein Lokal und habe es im Labitzke-Areal gefunden. Das war eine ehe-malige Farbfabrik. Die Miete betrug 7500 Franken im Monat. Ich musste 25 000 Fran-ken Mietdepot zahlen. So viel Geld hatte ich nicht. Ein wohlhabender Privatmann hat mir die Summe vorgeschossen. Als Club war das Aera illegal, mindestens in den Au-gen der Stadt. Ich habe Zehntausende von Franken Bussen bezahlt. Nach kantonalem Recht jedoch durfte ich den Club führen. So gab es einen langen Rechtsstreit, der klären sollte, welche Rechtauassung für das La-bitzke-Areal nun galt. Schliesslich bin ich direkt auf die damalige Stadträtin Ursula Koch zugegangen. Das Gespräch brachte Entspannung in die Sache.Es gab ja noch andere Nutzer der ehemaligen Farbfabrik.Es gab z. B. noch einen Albanerverein. Und auch ein muslimischer Betraum. Zudem gab es einen Bewohner. Mit ihm mussten wir uns absprechen, wenn wir den zweiten Dance-Floor önen wollten.War das dieser geniale Raum, aus dem man weit auf Gleislandschaft in Altstetten blicken konnte?Ja.Was alle fasziniert, war die Modelleisenbahn, die den Wänden entlang. Wir haben mal eine Spiel-Party gemacht. Die Eisenbahn war ein Überbleibsel davon. Sie lief manchmal nicht. Dann kamen sofort die Gäste auf mich zu: «Warum fährt das Bähnchen nicht?» Das Nikotin in der Luft hatte sich auf die elektrischen Schienen ge-legt. Ich musste sie immer wieder von der Ablagerung befreien. Damals rauchte man noch in den Clubs. Das gehörte auch irgend-wie zur Atmosphäre. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es auch einen Darkroom für Sex.Ja. Selbst wollte ich nie einen Darkroom ein-richten. Es war aber der dringende Wunsch von einem Teil der Gäste.Wie hast du die Stimmung im Club empfunden, als er sich mehr und mehr füllte?Ich fand es schön, dass es im Aera keine strenge Trennung zwischen Freunden, Gäs-ten und Angestellten gab. Das war eine Aus-zeichnung für den Club. Die Gäste fühlten sich beteiligt. So brauchten wir nie eine Se-curity. Die soziale Kontrolle funktionierte. Bald fand das Aera einen Platz im schwulen Nachtleben und in der Technoszene. Viele unserer Gäste kamen samstags zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, dann wechselten sie ins Labyrinth. Andere blie-ben im Aera, wieder andere tanzten nur im Labyrinth. Der Freitag gehörte ganz uns. Dann besuchten auch viele Heteros den Club. Da konnte man oft eher die echten Aera-Schwingungen erleben als am Sams-tag, gerade auch bei der Musik.Von wegen sozialer Kontrolle: Techno hatte auch mit Drogen zu tun. Wie hast das im Aera erlebt?Neu in den 1990ern war Ecstasy. Ich kam ja aus der Psychiatrie und wusste, dass man den Inhaltssto von E (mdma) therapeu-tisch nutzte. Das war nie ein Problem für das Aera. Dann kam GBL hinzu. Das war arg. Immer wieder sackte jemand halb be-wusstlos zusammen, weil er zu viel von dem Zeug geschluckt hatte. Das kam oft ein bis zwei Mal die Woche vor. Wir mussten je-weils die Ambulanz rufen. Es gab dann wel-che, die aus dem Krankenbett zurückka-men und wieder in den Club wollten. Da sagte ich jedes Mal: «Genug für heute!»Irgendwann kam auch immer mehr Kokain in die Szene. Im Aera war nach meinem Gefühl Kokain wenig präsent. Gerade wegen der halb pri-vaten Atmosphäre kamen die Dealer kaum zu uns oder waren wenigstens nicht sicht-bar. Im Jahr 2004 hatten wir aber plötzlich keine Gäste mehr. Eine Nacht in der «Dach-kantine» mit ihrer Terrasse über den Dä-chern der Stadt machte mir sofort klar, dass die Szene in dieses Lokal in der ehemaligen Toni-Molkerei gezogen war. Mir war sofort klar: Die Aera-Zeit ist vorbei. Ich machte meinen Club zu. Dafür organisierte ich schwule Partys in der Dachkantine. Ich hol-te die Truppe «Dunst» aus Kopenhagen in den Club. Die waren krass drauf. Die Club-besucher reagierten fasziniert bis scho-ckiert. Der Wahnsinn erreichte einen neuen Höhepunkt. Um auf deine Frage zu kom-men: In der Dachkantine übertrieben es ei-nige Gäste mit dem Drogenkonsum. Es ging zu weit. Als der Club 2006 schloss, mischte sich in die Trauer auch Erleichterung. Das war das Ende des schwulen Techno-Hypes in Zürich.So habe ich das auch empfunden. Und heute?Heute betreue ich im Dienst der Stadt Zürich Menschen, die durch alle sozialen Netze ge-fallen sind. Willy Bühlmann hat den Club Aera zur Legende gemacht - und ist mittlerweile selbst zur Legende geworden.Ich fand es schön, dass es im Aera keine strenge Trennung zwischen Freunden, Gästen und Angestellten gab. Das war eine Auszeichnung für den Club. Die Gäste fühlten sich beteiligt.Als Sven auflegte, mochte er gar nicht mehr aufhören, spielte bis weit in den Morgen, liess sogar seinen Flug nach Frank-furt sausen.Bild © Christian Felix

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12 13CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024VON HAYMO EMPLWir erinnern uns: Stael 1 der TV-Serie «True Detective» sorgte im Jahr 2014 für Furore. Im Strea-ming-Serien-Dschungel sorgte die ame-rika nische Anthologie-Fernsehserie für wohltuende Abwechslung und grandiose Kritiken. Die Bildsprache, die Schauspie-ler, die Story… umwerfend. Entsprechend brillant waren die Kritiken – und sind es immer noch. Denn mittlerweile steht die langersehnte Stael 4 in den Startlöchern. Aber keine Angst; wer erst jetzt zur Fan-gruppe dazugehören will, kann problemlos ab Januar einsteigen. Denn jede Stael der Serie ist als in sich geschlossene Erzählung struk turiert, die mit neuen Darstellern be-setzt ist und verschiedenen Charakteren und Schauplätzen folgt. True Detective: Night CountryUnter dem Titel «True Detective: Night Coun-try» spielt diese neue Stael des HBO-Dra-mas – welches bei uns exklusiv auf Sky Show zu sehen ist – in der winterlichen Einöde des US-Bundesstaats Alaska. Die Macher*innen beschreiben den Plot wie folgt: «Als die lange Winternacht in Ennis, Alaska, hereinbricht, verschwinden die Männer, die die arktische Forschungsstati-on Tsalal betreiben, spurlos. Um den Fall zu lösen, müssen sich die Detectives Liz Dan-vers und Evangeline Navarro der Dunkelheit stellen, die sie selbst in sich tragen, und in den veruchten Wahrheiten graben, die un-ter dem ewigen Eis verschüttet liegen.»Jodie Foster brilliertLiz Danvers wird von niemand Geringerem als von der zweifachen Oscar-Preisträgerin Jodie Foster gespielt. Alleine das gibt Anlass zur Freude, denn die queere Schau spielerin wird der Figur von Liz Danvers garantiert den nötigen Biss verleihen; eine Detektivin also, die allen zeigt, wo’s langgeht.Die Stael «True Detective: Night Country» wurde übrigens mit einem ge-schätzten Budget von 60 Millionen Dollar gedreht. Und damit alles so authentisch wie möglich erscheint, drehte man fast aus-nahmslos in Island.Zum Cast gehören neben Jodie Foster und Kari Reis auch Finn Bennett, Fiona Shaw, Christopher Eccleston, Isabella Star LaBlanc und John Hawkes. Als Gaststars fungieren Anna Lambe, Aka Niviâna, June iele, Diane Benson und Joel D. Montgrand. Serien-Showrunner, Autorin, Regis-seurin und Executive Producer ist Issa López. Jodie Foster ist nicht nur Star der neuen Stael, sondern auch ausführende Produzentin. True Detective: Night Country Startet in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar. Danach immer montags ab ca. 9.00 Uhr mit einer Episode wöchentlich abrufbar. Wahlweise auf Deutsch oder im Original sowie optional mit deutschen oder englischen Untertiteln verfüg-bar. Exklusiv in der Schweiz auf Sky Show.Als die lange Winternacht in Alaska hereinbricht, verschwinden alle Männer einer Forschungsstation. Detektivin Liz Danvers (Jodie Foster) beginnt zu ermitteln.True Detective ist zurück –mit Jodie Foster!True Detective – Night Country: Jodie Foster und Kali Reis spielen in der neuen Serie das starke Detek tiv innen-Duo. Jodie Foster ist nicht nur ein Garant für beste Schauspielkunst, sondern verleiht der Protagonistin die nötige Tiefe. Kali Reis ist im realen leben Profiboxerin und Weltmeisterin in zwei Gewichtsklassen.Jodie Foster ist im neuen Serienknaller nicht nur ermittelnde Detektivin, sondern fungiert zudem als ausführende Produzentin.Liz Danvers wird von der zwei-fachen Oscar-Preisträgerin Jodie Foster gespielt. Alleine das gibt Anlass zur Freude, denn die queere Schauspielerin wird der Figur von Liz Danvers garantiert den nötigen Biss verleihen.Bilder © Michele K. Short / HBOANZEIGESTREAMING-TIPPTRUE DETECTIVESTREAMING-TIPPTRUE DETECTIVEcruiserbraucht dich!Abonniere uns!Meine Cruiser-Bestellung Jahresabo, Selbstkostenpreis: CHF 68.– Gönner*innen Jahresabo: CHF 250.–Einsenden an: Cruiser, Clausiusstrasse 42, 8006 Zürichwww.cruisermagazin.ch/aboDAS MAGAZIN FÜR DIE QUEERE LEBENSART10 AUSGABEN FÜR NUR CHF 68. Der Cruiser kommt in neutralem Umschlag direkt in deinen Briefkasten. Einfach Coupon ausfüllen und einschicken oder online bestellen unter www.cruisermagazin.ch/aboVorname | NameStrasse | Nr.PLZ | Ort E-MailUnterschrift

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12 13CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024VON HAYMO EMPLWir erinnern uns: Stael 1 der TV-Serie «True Detective» sorgte im Jahr 2014 für Furore. Im Strea-ming-Serien-Dschungel sorgte die ame-rika nische Anthologie-Fernsehserie für wohltuende Abwechslung und grandiose Kritiken. Die Bildsprache, die Schauspie-ler, die Story… umwerfend. Entsprechend brillant waren die Kritiken – und sind es immer noch. Denn mittlerweile steht die langersehnte Stael 4 in den Startlöchern. Aber keine Angst; wer erst jetzt zur Fan-gruppe dazugehören will, kann problemlos ab Januar einsteigen. Denn jede Stael der Serie ist als in sich geschlossene Erzählung struk turiert, die mit neuen Darstellern be-setzt ist und verschiedenen Charakteren und Schauplätzen folgt. True Detective: Night CountryUnter dem Titel «True Detective: Night Coun-try» spielt diese neue Stael des HBO-Dra-mas – welches bei uns exklusiv auf Sky Show zu sehen ist – in der winterlichen Einöde des US-Bundesstaats Alaska. Die Macher*innen beschreiben den Plot wie folgt: «Als die lange Winternacht in Ennis, Alaska, hereinbricht, verschwinden die Männer, die die arktische Forschungsstati-on Tsalal betreiben, spurlos. Um den Fall zu lösen, müssen sich die Detectives Liz Dan-vers und Evangeline Navarro der Dunkelheit stellen, die sie selbst in sich tragen, und in den veruchten Wahrheiten graben, die un-ter dem ewigen Eis verschüttet liegen.»Jodie Foster brilliertLiz Danvers wird von niemand Geringerem als von der zweifachen Oscar-Preisträgerin Jodie Foster gespielt. Alleine das gibt Anlass zur Freude, denn die queere Schau spielerin wird der Figur von Liz Danvers garantiert den nötigen Biss verleihen; eine Detektivin also, die allen zeigt, wo’s langgeht.Die Stael «True Detective: Night Country» wurde übrigens mit einem ge-schätzten Budget von 60 Millionen Dollar gedreht. Und damit alles so authentisch wie möglich erscheint, drehte man fast aus-nahmslos in Island.Zum Cast gehören neben Jodie Foster und Kari Reis auch Finn Bennett, Fiona Shaw, Christopher Eccleston, Isabella Star LaBlanc und John Hawkes. Als Gaststars fungieren Anna Lambe, Aka Niviâna, June iele, Diane Benson und Joel D. Montgrand. Serien-Showrunner, Autorin, Regis-seurin und Executive Producer ist Issa López. Jodie Foster ist nicht nur Star der neuen Stael, sondern auch ausführende Produzentin. True Detective: Night Country Startet in der Nacht vom 14. auf den 15. Januar. Danach immer montags ab ca. 9.00 Uhr mit einer Episode wöchentlich abrufbar. Wahlweise auf Deutsch oder im Original sowie optional mit deutschen oder englischen Untertiteln verfüg-bar. Exklusiv in der Schweiz auf Sky Show.Als die lange Winternacht in Alaska hereinbricht, verschwinden alle Männer einer Forschungsstation. Detektivin Liz Danvers (Jodie Foster) beginnt zu ermitteln.True Detective ist zurück –mit Jodie Foster!True Detective – Night Country: Jodie Foster und Kali Reis spielen in der neuen Serie das starke Detek tiv innen-Duo. Jodie Foster ist nicht nur ein Garant für beste Schauspielkunst, sondern verleiht der Protagonistin die nötige Tiefe. Kali Reis ist im realen leben Profiboxerin und Weltmeisterin in zwei Gewichtsklassen.Jodie Foster ist im neuen Serienknaller nicht nur ermittelnde Detektivin, sondern fungiert zudem als ausführende Produzentin.Liz Danvers wird von der zwei-fachen Oscar-Preisträgerin Jodie Foster gespielt. Alleine das gibt Anlass zur Freude, denn die queere Schauspielerin wird der Figur von Liz Danvers garantiert den nötigen Biss verleihen.Bilder © Michele K. Short / HBOANZEIGESTREAMING-TIPPTRUE DETECTIVESTREAMING-TIPPTRUE DETECTIVEcruiserbraucht dich!Abonniere uns!Meine Cruiser-Bestellung Jahresabo, Selbstkostenpreis: CHF 68.– Gönner*innen Jahresabo: CHF 250.–Einsenden an: Cruiser, Clausiusstrasse 42, 8006 Zürichwww.cruisermagazin.ch/aboDAS MAGAZIN FÜR DIE QUEERE LEBENSART10 AUSGABEN FÜR NUR CHF 68. Der Cruiser kommt in neutralem Umschlag direkt in deinen Briefkasten. Einfach Coupon ausfüllen und einschicken oder online bestellen unter www.cruisermagazin.ch/aboVorname | NameStrasse | Nr.PLZ | Ort E-MailUnterschrift

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14 15CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024AUSLANDGAYS IN JAPANAUSLANDGAYS IN JAPANVON BIRGIT KAWOHLDer kleine Junge Minato beginnt sich merkwürdig zu verhalten; seine Mutter spürt, dass etwas nicht stimmt. Als sie entdeckt, dass eine Lehr-kraft für das Verhalten ihres Sohnes verant-wortlich ist, stürmt sie auf der Suche nach Aufklärung in die Schule. Während die Ge-schichte aus Sicht der Mutter, der Lehrkraft und des Kindes erzählt wird, kommt all-mählich die Wahrheit ans Licht: Minato unterhält eine enge Freundschafts- und Liebesbeziehung zu einem Mitschüler; ist also gay. Geht das in Japan? Im Jahr 2024 schon, oder? Oder nicht? «Mit der Verzweiung der Aussensei-ter» titelte Wieland Wagner im Oktober letz-ten Jahres im Spiegel seinen Artikel über Schwule in Japan. Das klingt dramatisch, vielleicht sogar übertrieben? Immerhin geht es um ein Land, dass mit einen der höchsten Lebensstandards der Welt vertritt, Mitglied der G7-Staaten ist und auch sonst einen durchaus fortschrittlichen Eindruck macht. Die pazische Inselnation hat eine Flä-che von etwa 378 000 km2, etwa 126 Mio. Einwohner*innen und umfasst mehr als 14 000 Inseln. Die hohe Entwicklungsstufe zeigt sich auch an der weltweit höchsten Le-benserwartung und dem drittgrössten Volks-vermögen. Doch all diese Punkte können nicht verhindern, dass man auf eine wenig fortschrittliche Gesellschaft trit, wenn es um die Fragen von Gleichberechtigung und Akzeptanz von sexuellen Minderheiten geht.Nur Platz 54 auf der LGBT*-Toleranz-listeAuf der Liste von 167 Ländern zur Toleranz gegenüber LGBT*s aus dem Jahr 2019 steht Japan hinter Syrien auf Platz 54! Davor konnten sich u. a. asiatische Länder wie In-dien, ailand und Taiwan platzieren. Ähn-lich ernüchternd wirkt der Blick auf die LGBT*-Karte, die die Rechte von Queers weltweit abbildet. Dort kann man erken-nen, dass gleichgeschlechtlicher Sexualver-kehr zwar nicht illegal ist, dass es aber nur eine begrenzte Anerkennung von Mitglie-dern der Community gibt.Daher ging auch das Outing des be-kannten japanischen Popstars und Schau-spielers Shinjiro Atae vor 2000 Fans wie ein Laueuer durch die Presse. So zitiert ihn Michael Ziegler in «Sumikai. Magazin rund um Japan»wie folgt: «Jahrelang habe ich da-rum gekämpft, einen Teil von mir selbst zu akzeptieren … aber jetzt, nach all dem, was ich durchgemacht habe, habe ich endlich den Mut, mich Ihnen gegenüber zu önen. Ich bin ein schwuler Mann.» Viele Menschen im mitteleuropäi-schen Raum werden jetzt sicherlich mit den Schultern zucken und denken «so what?». Ein schwuler Popstar? Da gibt es sicherlich grössere Sensationen. Eben nicht, wenn man in Japan zu Hause ist. Der 35-jährige Atae, dessen Karriere bereits im Jahr 2005 begann, ist (nahezu) ein Einzelfall unter prominenten Japanern. Und das, obwohl die japanische Sexualmoral alles andere als verklemmt ist. Im Gegenteil, sie gilt als eine der oensten weltweit. Samurais durften Männer liebenHistorisch kann diese Antipathie gegen-über gleichgeschlechtlich Liebenden (und noch viel stärker die gegenüber trans* Men-schen) nicht erklärt werden, war doch Män-nerliebe z. B. unter Samurais durchaus ak-zeptiert. Aber vielleicht ist das auch etwas anderes und man sieht die Liebe zwischen Samurais eher als Bromance als als schwule Partnerschaft. Denn die ist auch vor dem Gesetz in Japan nicht besonders geschützt, wie Wieland Wagner in seinem fundierten Sachbuch «Das Erbe der Tennos» erklärt. Dabei ist die Legalität von homose-xuellen Handlungen bereits seit 1880 ge-währleistet, da waren andere Industrienati-onen durchaus langsamer (wie man auch im Januar-Buchtipp des Cruiser «Das neue Leben» nachlesen kann).Die zu den Olympischen Spielen in Ja-pan im Jahr 2021 eingegangene Verpich-tung zur Inklusion und Diversität änderte kaum etwas für die Betroenen. Daher sah sich der japanische Premierminister Fumio Kishida im Umfeld des G7-Gipfels im Mai 2023 in Hiroshima dazu gezwungen, ein Antidiskriminierungsgesetz im Parlament einzubringen, da Japan als einzige führende Industrienation die Ehe für alle noch nicht beschlossen hat. Im Juni einigte sich das ja-panische Parlament (= Unterhaus) zwar auf dieses Gesetz, allerdings muss es noch den Senat passieren, bevor es in Kraft treten kann. Dieses im letzten Sommer verabschie-dete Gesetz mag zwar graduelle Fortschritte bringen, da es das Verständnis für die Belan-ge von Queers fördern will, echter Erfolg und Fortschritt sehen allerdings anders aus, denn noch gilt die japanische Verfassung ➔ Japan, das sind Mangas, Ramen, Judo und Fukushima. Wie es um das Leben von LGBT*s steht, weiss man nicht unbedingt. Daher schauen wir einmal dorthin.Im Land der aufgehenden Sonne?ANZEIGEein Projekt der Evangelisch-methodistischeKirche… so farbig wie dein Glaube!Gemeinschaft. Gott. Weiteregenbogenkirche.chSamurais stehen für Kraft und Männlichkeit. Trotzdem war die Männerliebe dort keine Seltenheit und akzeptiert.Der Künstler Shinjiro Atae nahm im vergangenen Jahr die schützende Brille ab und outete sich vor 2000 Fans.Bild rechts © PD

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14 15CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024AUSLANDGAYS IN JAPANAUSLANDGAYS IN JAPANVON BIRGIT KAWOHLDer kleine Junge Minato beginnt sich merkwürdig zu verhalten; seine Mutter spürt, dass etwas nicht stimmt. Als sie entdeckt, dass eine Lehr-kraft für das Verhalten ihres Sohnes verant-wortlich ist, stürmt sie auf der Suche nach Aufklärung in die Schule. Während die Ge-schichte aus Sicht der Mutter, der Lehrkraft und des Kindes erzählt wird, kommt all-mählich die Wahrheit ans Licht: Minato unterhält eine enge Freundschafts- und Liebesbeziehung zu einem Mitschüler; ist also gay. Geht das in Japan? Im Jahr 2024 schon, oder? Oder nicht? «Mit der Verzweiung der Aussensei-ter» titelte Wieland Wagner im Oktober letz-ten Jahres im Spiegel seinen Artikel über Schwule in Japan. Das klingt dramatisch, vielleicht sogar übertrieben? Immerhin geht es um ein Land, dass mit einen der höchsten Lebensstandards der Welt vertritt, Mitglied der G7-Staaten ist und auch sonst einen durchaus fortschrittlichen Eindruck macht. Die pazische Inselnation hat eine Flä-che von etwa 378 000 km2, etwa 126 Mio. Einwohner*innen und umfasst mehr als 14 000 Inseln. Die hohe Entwicklungsstufe zeigt sich auch an der weltweit höchsten Le-benserwartung und dem drittgrössten Volks-vermögen. Doch all diese Punkte können nicht verhindern, dass man auf eine wenig fortschrittliche Gesellschaft trit, wenn es um die Fragen von Gleichberechtigung und Akzeptanz von sexuellen Minderheiten geht.Nur Platz 54 auf der LGBT*-Toleranz-listeAuf der Liste von 167 Ländern zur Toleranz gegenüber LGBT*s aus dem Jahr 2019 steht Japan hinter Syrien auf Platz 54! Davor konnten sich u. a. asiatische Länder wie In-dien, ailand und Taiwan platzieren. Ähn-lich ernüchternd wirkt der Blick auf die LGBT*-Karte, die die Rechte von Queers weltweit abbildet. Dort kann man erken-nen, dass gleichgeschlechtlicher Sexualver-kehr zwar nicht illegal ist, dass es aber nur eine begrenzte Anerkennung von Mitglie-dern der Community gibt.Daher ging auch das Outing des be-kannten japanischen Popstars und Schau-spielers Shinjiro Atae vor 2000 Fans wie ein Laueuer durch die Presse. So zitiert ihn Michael Ziegler in «Sumikai. Magazin rund um Japan»wie folgt: «Jahrelang habe ich da-rum gekämpft, einen Teil von mir selbst zu akzeptieren … aber jetzt, nach all dem, was ich durchgemacht habe, habe ich endlich den Mut, mich Ihnen gegenüber zu önen. Ich bin ein schwuler Mann.» Viele Menschen im mitteleuropäi-schen Raum werden jetzt sicherlich mit den Schultern zucken und denken «so what?». Ein schwuler Popstar? Da gibt es sicherlich grössere Sensationen. Eben nicht, wenn man in Japan zu Hause ist. Der 35-jährige Atae, dessen Karriere bereits im Jahr 2005 begann, ist (nahezu) ein Einzelfall unter prominenten Japanern. Und das, obwohl die japanische Sexualmoral alles andere als verklemmt ist. Im Gegenteil, sie gilt als eine der oensten weltweit. Samurais durften Männer liebenHistorisch kann diese Antipathie gegen-über gleichgeschlechtlich Liebenden (und noch viel stärker die gegenüber trans* Men-schen) nicht erklärt werden, war doch Män-nerliebe z. B. unter Samurais durchaus ak-zeptiert. Aber vielleicht ist das auch etwas anderes und man sieht die Liebe zwischen Samurais eher als Bromance als als schwule Partnerschaft. Denn die ist auch vor dem Gesetz in Japan nicht besonders geschützt, wie Wieland Wagner in seinem fundierten Sachbuch «Das Erbe der Tennos» erklärt. Dabei ist die Legalität von homose-xuellen Handlungen bereits seit 1880 ge-währleistet, da waren andere Industrienati-onen durchaus langsamer (wie man auch im Januar-Buchtipp des Cruiser «Das neue Leben» nachlesen kann).Die zu den Olympischen Spielen in Ja-pan im Jahr 2021 eingegangene Verpich-tung zur Inklusion und Diversität änderte kaum etwas für die Betroenen. Daher sah sich der japanische Premierminister Fumio Kishida im Umfeld des G7-Gipfels im Mai 2023 in Hiroshima dazu gezwungen, ein Antidiskriminierungsgesetz im Parlament einzubringen, da Japan als einzige führende Industrienation die Ehe für alle noch nicht beschlossen hat. Im Juni einigte sich das ja-panische Parlament (= Unterhaus) zwar auf dieses Gesetz, allerdings muss es noch den Senat passieren, bevor es in Kraft treten kann. Dieses im letzten Sommer verabschie-dete Gesetz mag zwar graduelle Fortschritte bringen, da es das Verständnis für die Belan-ge von Queers fördern will, echter Erfolg und Fortschritt sehen allerdings anders aus, denn noch gilt die japanische Verfassung ➔ Japan, das sind Mangas, Ramen, Judo und Fukushima. Wie es um das Leben von LGBT*s steht, weiss man nicht unbedingt. Daher schauen wir einmal dorthin.Im Land der aufgehenden Sonne?ANZEIGEein Projekt der Evangelisch-methodistischeKirche… so farbig wie dein Glaube!Gemeinschaft. Gott. Weiteregenbogenkirche.chSamurais stehen für Kraft und Männlichkeit. Trotzdem war die Männerliebe dort keine Seltenheit und akzeptiert.Der Künstler Shinjiro Atae nahm im vergangenen Jahr die schützende Brille ab und outete sich vor 2000 Fans.Bild rechts © PD

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KOLUMNEMICHI RÜEGGEine beliebte Zürcher Gaysauna «Moustache» musste auf Ende Jahr schliessen. Michi Rüegg trauert und gibt Ratschläge, wie man mit dem Verlust umgehen kann.VON MICHI RÜEGGWenn du diese Zeilen liest, ist das Zürcher Moustache vermutlich Geschichte. Die Gaysauna musste per Ende 2023 ihren Betrieb einstellen. Es ist die einzige Gaysauna, über die ich mal hochoziell eine Schwitzkritik schrieb.Die Suche nach geeigneten neuen Räumen entpuppte sich oenbar als Ding der Unmöglichkeit. Dass es in Zürich an Wohnungen fehlt, weiss man. Aber Gewer-beräume, so zumindest die Annahme, sollte es eigentlich genügend geben. Aber welche Verwaltung legt schon wert auf eine Gay-sauna als Mieterin?Das ist doof. Zwar hatte ich schon eini-ge langweilige Abende im Moustache. Aber dann und wann hatte ich auch das Glück, nicht nur auf Idioten zu stossen. Und ja, ein-mal war’s gar wie ein Klassentreen, ich kannte etwa jeden dritten Besucher. Was bleiben uns nun für Möglichkeiten?Klar, man kann in eine der anderen Saunen, wenn man möchte. Im Paragonya empehlt sich die Mitnahme eines oder mehrerer Hunderternötli. Das Apollo, so ein Bekannter von mir, sei noch immer genau gleich wie vor 50 Jahren. Auch die Klientel sei mehrheitlich noch dieselbe. Die Sauna-Mylords dürfte sich mit ihrem Senioren-rabatt an eine ähnliche Kundschaft richten wie die Apollo. Bleibt noch das Reno’s, als ich das letzte Mal dort war, hatten die ge-rade «Bi-Tag». Ich durfte zugucken, wie ein Kerl an einer voluminösen Dame herum-machte. War jetzt nicht unbedingt das, was mir vorschwebte. Allerdings sind die seither in eine andere Location umgezogen und ha-ben dort umgebaut. Auf den Fotos sieht’s ganz nett aus. Man könnte es also durchaus mal wieder probieren.Wer aus lauter Trauer noch nicht bereit für eine andere Gaysauna ist, kann auch in den Dampfbädern und Sanarien diverser Zürcher Fitnessclub auf die Suche nach Onanisten gehen. Fummeln und derlei ver-stösst zwar gegen die jeweilige Hausord-nung, aber man ist ja vorsichtig. Ob in den Duschen und Saunen der öentlichen Hal-lenbäder viel los ist, entzieht sich meinem Wissen. Die meisten wurden in den vergan-genen Jahren homophob umgebaut.Wer künftig daheim im Home-Oce Gaysauna will, kann die Dusche sehr lang heiss laufen lassen, das Licht ausmachen und den Laptop aufs Lavabo stellen. Dann steht man eine Weile nackt im Dampf und wartet darauf, dass einer kommt. Dieses Er-lebnis kommt vielen echten Gaysaunen sehr nahe, denn dort ist man je nach Tageszeit auch recht allein. Man kann sich dann frus-triert einen herunterholen und darüber u-chen, dass man dafür über 30 Stutz bezahlt hat (was man ja nicht, hat, weil man ja zu-hause ist, aber man sollte trotzdem so tun, damit es sich echt anfühlt). Wer diese Ein-samkeit nicht schätzt, überredet einfach ein Grindr-Date bei dem Game mitzumachen.Das erinnert mich an eine Reise vor ei-ner Weile. Ich war in einer europäischen Stadt. Es war kalt, ich war horny und auf Grindr war wie üblich kein Verlass. Also be-gab ich mich zu einer Sauna. Es war Nach-mittag und ich der einzige Gast. Die erste Stunde kundschaftete ich in Ruhe die Räu-me aus. Irgendwann erbarmte sich der Be-sitzer der Lokalität meiner und gesellte sich zu mir ins Dampfbad. Er war mitnichten, was ich mir erhot hatte, doch in der Not frisst der Teufel bekanntermassen Fliegen. Es war diese klassische Situation von zwei Menschen auf einer einsamen Insel. Und weit und breit keine Ziegen oder Schafe.Irgendwann kamen dann glücklicher-weise noch ein paar weitere Nasen. Eine war nicht so übel, also gingen wir zur Sache. Lei-der tauschten wir Facebook-Accounts aus, er schreibt mir noch immer regelmässig in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Und orthograsch so lausig, dass auch Google Translate keine Hilfe darstellt.Ja, so ist es mit diesen Gaysaunen. Manchmal sind sie die Erfüllung auf Erden. Aber oftmals einfach nur abgehalfterte Orte, die auf Tageslicht verzichten und Brutstätte für seltene Pilzgattungen sind.Aber sie sind ein Teil unserer Kultur. Und wir sollten sie pegen. Das Dahinschei-den einer Sauna ist kein schönes Zeichen. Vor allem dann, wenn es sich um die belieb-teste ihrer Gattung gehandelt hat. Tragen wir also Sorge zu dem, was wir noch haben. Geht alle hin, ihr netten, geilen Typen. Und pegt unsere schwule Kultur. Der Schnurrbart ist vorerst Geschichte16 17CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024AUSLANDGAYS IN JAPANvon 1947 als massgeblich, die festlegt, dass die Ehe «nur auf dem gegenseitigen Einver-ständnis beider Geschlechter beruhen darf», wie es «Die Zeit» in ihrer Online-Ausgabe vom 13. Juni 2023 formuliert. 70 % der Jugendlichen leiden im AlltagDer momentane Umgang mit queeren Men-schen steht zwar in eklatantem Widerspruch zu dem ebenfalls in der Verfassung veran-kerten Grundsatz der Gleichheit aller Men-schen vor dem Gesetz, doch ändert das nichts daran, dass Japan auch weiterhin kei-ne Möglichkeiten für eine echte Homo-Ehe bietet. Viele Kommunen bieten zwar eine standesamtliche Registrierung der Partner-schaften an, rechtliche Vorteile können die Betroenen daraus aber nicht ziehen.Dass dies in der Gesellschaft nicht ohne Auswirkungen bleibt, ist logisch. Ge-rade unter jugendlichen Queers sind die Ne-gativfolgen immens: So leiden laut Journa-list Wieland Wagner in besagtem Artikel 70 % aller queeren Schüler*innen im Schul-alltag unter Diskriminierung und Unver-ständnis, 50 % von ihnen haben sogar be-reits einen Suizidversuch hinter sich, so massiv ist der Druck auf sie. Zudem fühlen sich die meisten als Aussenseiter*innen, da ihnen im Alltag wenig Verständnis entge-gengebracht wird und sie kaum auf Solida-rität hoen können. Dies hängt auch mit dem japanischen Erziehungsideal zusammen, das vor allem die Anpassung als oberstes Ziel postuliert. Aber wie soll sich ein schwuler Jugendlicher oder eine tran* Person an eine heteronor-mative Gesellschaft anpassen? Dies geht ei-gentlich nur über Verleugnung des eigenen Ichs und der eigenen Bedürfnisse. Homeoffice schützt schwule ArbeitsnehmerFür viele Japaner*innen war daher Corona fast ein Segen, da mit der Möglichkeit des Homeoce sowohl das Arbeiten als auch die Jobsuche wesentlich erleichtert wurde. Immerhin muss man sich nicht mehr täglich in die Höhle der Löwen begeben und sich Anfeindungen aussetzen. Wenn man sich vor Augen hält, wie wichtig das Arbeiten in der japanischen Gesellschaft ist und mit welcher Intensität Arbeitnehmer*innen sich für ihre Arbeitgeber*innen einsetzen, kann man die Erleichterung vorstellen, die sich durch die Arbeit im Homeoce breitmacht.Kento Hoshi hat erkannt, dass die Ar-beitswelt und der Umgang mit LGBT*s ver-besserungsfähig sind und hat daher eine eigene Job-Agentur gegründet. «Job Rain-bow» wendet sich gezielt an queeres Klien-tel. Wie notwendig diese Dierenzierung auf dem Arbeitsmarkt war, zeigen die Mit-gliederzahlen. «Job Rainbow» zählt inzwi-schen mehr als 370 000 Nutzer*innen und 550 Partner*innenunternehmen. Das mag auf die Einwohnerzahl Japans nicht ausser-ordentlich viel klingen, aber es ist ein wich-tiger Anfang, wenn man bedenkt, dass es für die meisten japanischen Arbeitneh-mer*innen völlig abwegig wäre, sich am Ar-beitsplatz zu outen – was dann auch das Outing von Shinjiro Atae nochmals als be-sonders mutig erscheinen lässt, schliesslich hat er sich während einer Veranstaltung, also an seinem Arbeitsplatz, an seine Fans gewandt. Raus aus dem VersteckNoch vor wenigen Jahren gingen daher auch viele queere Japaner*innen lieber eine Scheinehe ein, als sich dem Druck der Ge-sellschaft auszusetzen.Dass Gays noch nicht im Lebensalltag angekommen sind, zeigt sich auch in den in Japan so beliebten Mangas, deren schwule Abteilung, die so genannten «gay comics», immer noch eine Randerscheinung sind. Auch im TV werden Schwule meist kli-scheehaft dargestellt. Sie treten in der Regel absolut tuntig auf, wirken weiblich bis in-fantil, was zum einen weder der Wirklich-keit entspricht noch dazu beiträgt, der Fern-sehcommunity ein realistisches Bild von Schwulen zu zeigen.Daher ist es umso wichtiger, dass Pro-mis wie Atae aus dem Versteck und aus der Nische heraustreten, um zu zeigen, dass Queers ein Teil der japanischen Gesell-schaft sind, ohne die diese ärmer und trau-riger wäre.Vielleicht kann auch der Spiellm von Kore-eda Hirokazu etwas zur Aufklärung beitragen und dadurch Vorurteile minimie-ren. Immerhin ist der Regisseur kein Unbe-kannter und erhielt schon 2018 die Goldene Palme für seinen Film «Shoplifters». Weite-re Infos zum Film s. S. 28. Links: Im Film «Monster» von Kore-eda Hirokazu hat Minato in der Schule Probleme, bald erfahren die Zu- schauer*innen wieso: Der Junge ist schwul. Rechts: Die so genannten «gay comics» sind in Japan bisher noch eine Randerscheinung trotz der Beliebtheit von Mangas im Allgemeinen.Ein schwuler Popstar? Da gibt es sicherlich grössere Sensationen. Eben nicht, wenn man in Japan zu Hause ist. Der 35-jährige Atae, dessen Karriere bereits im Jahr 2005 begann, ist (nahezu) ein Einzelfall unter prominenten Japanern.Das Dahinscheiden einer Sauna ist kein schönes Zeichen. Tragen wir also Sorge zu dem, was wir noch haben. Geht alle hin, ihr netten, geilen Typen. Und pflegt unsere schwule Kultur.Bilder © ZVG / Wikimedia Commons

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KOLUMNEMICHI RÜEGGEine beliebte Zürcher Gaysauna «Moustache» musste auf Ende Jahr schliessen. Michi Rüegg trauert und gibt Ratschläge, wie man mit dem Verlust umgehen kann.VON MICHI RÜEGGWenn du diese Zeilen liest, ist das Zürcher Moustache vermutlich Geschichte. Die Gaysauna musste per Ende 2023 ihren Betrieb einstellen. Es ist die einzige Gaysauna, über die ich mal hochoziell eine Schwitzkritik schrieb.Die Suche nach geeigneten neuen Räumen entpuppte sich oenbar als Ding der Unmöglichkeit. Dass es in Zürich an Wohnungen fehlt, weiss man. Aber Gewer-beräume, so zumindest die Annahme, sollte es eigentlich genügend geben. Aber welche Verwaltung legt schon wert auf eine Gay-sauna als Mieterin?Das ist doof. Zwar hatte ich schon eini-ge langweilige Abende im Moustache. Aber dann und wann hatte ich auch das Glück, nicht nur auf Idioten zu stossen. Und ja, ein-mal war’s gar wie ein Klassentreen, ich kannte etwa jeden dritten Besucher. Was bleiben uns nun für Möglichkeiten?Klar, man kann in eine der anderen Saunen, wenn man möchte. Im Paragonya empehlt sich die Mitnahme eines oder mehrerer Hunderternötli. Das Apollo, so ein Bekannter von mir, sei noch immer genau gleich wie vor 50 Jahren. Auch die Klientel sei mehrheitlich noch dieselbe. Die Sauna-Mylords dürfte sich mit ihrem Senioren-rabatt an eine ähnliche Kundschaft richten wie die Apollo. Bleibt noch das Reno’s, als ich das letzte Mal dort war, hatten die ge-rade «Bi-Tag». Ich durfte zugucken, wie ein Kerl an einer voluminösen Dame herum-machte. War jetzt nicht unbedingt das, was mir vorschwebte. Allerdings sind die seither in eine andere Location umgezogen und ha-ben dort umgebaut. Auf den Fotos sieht’s ganz nett aus. Man könnte es also durchaus mal wieder probieren.Wer aus lauter Trauer noch nicht bereit für eine andere Gaysauna ist, kann auch in den Dampfbädern und Sanarien diverser Zürcher Fitnessclub auf die Suche nach Onanisten gehen. Fummeln und derlei ver-stösst zwar gegen die jeweilige Hausord-nung, aber man ist ja vorsichtig. Ob in den Duschen und Saunen der öentlichen Hal-lenbäder viel los ist, entzieht sich meinem Wissen. Die meisten wurden in den vergan-genen Jahren homophob umgebaut.Wer künftig daheim im Home-Oce Gaysauna will, kann die Dusche sehr lang heiss laufen lassen, das Licht ausmachen und den Laptop aufs Lavabo stellen. Dann steht man eine Weile nackt im Dampf und wartet darauf, dass einer kommt. Dieses Er-lebnis kommt vielen echten Gaysaunen sehr nahe, denn dort ist man je nach Tageszeit auch recht allein. Man kann sich dann frus-triert einen herunterholen und darüber u-chen, dass man dafür über 30 Stutz bezahlt hat (was man ja nicht, hat, weil man ja zu-hause ist, aber man sollte trotzdem so tun, damit es sich echt anfühlt). Wer diese Ein-samkeit nicht schätzt, überredet einfach ein Grindr-Date bei dem Game mitzumachen.Das erinnert mich an eine Reise vor ei-ner Weile. Ich war in einer europäischen Stadt. Es war kalt, ich war horny und auf Grindr war wie üblich kein Verlass. Also be-gab ich mich zu einer Sauna. Es war Nach-mittag und ich der einzige Gast. Die erste Stunde kundschaftete ich in Ruhe die Räu-me aus. Irgendwann erbarmte sich der Be-sitzer der Lokalität meiner und gesellte sich zu mir ins Dampfbad. Er war mitnichten, was ich mir erhot hatte, doch in der Not frisst der Teufel bekanntermassen Fliegen. Es war diese klassische Situation von zwei Menschen auf einer einsamen Insel. Und weit und breit keine Ziegen oder Schafe.Irgendwann kamen dann glücklicher-weise noch ein paar weitere Nasen. Eine war nicht so übel, also gingen wir zur Sache. Lei-der tauschten wir Facebook-Accounts aus, er schreibt mir noch immer regelmässig in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Und orthograsch so lausig, dass auch Google Translate keine Hilfe darstellt.Ja, so ist es mit diesen Gaysaunen. Manchmal sind sie die Erfüllung auf Erden. Aber oftmals einfach nur abgehalfterte Orte, die auf Tageslicht verzichten und Brutstätte für seltene Pilzgattungen sind.Aber sie sind ein Teil unserer Kultur. Und wir sollten sie pegen. Das Dahinschei-den einer Sauna ist kein schönes Zeichen. Vor allem dann, wenn es sich um die belieb-teste ihrer Gattung gehandelt hat. Tragen wir also Sorge zu dem, was wir noch haben. Geht alle hin, ihr netten, geilen Typen. Und pegt unsere schwule Kultur. Der Schnurrbart ist vorerst Geschichte16 17CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024AUSLANDGAYS IN JAPANvon 1947 als massgeblich, die festlegt, dass die Ehe «nur auf dem gegenseitigen Einver-ständnis beider Geschlechter beruhen darf», wie es «Die Zeit» in ihrer Online-Ausgabe vom 13. Juni 2023 formuliert. 70 % der Jugendlichen leiden im AlltagDer momentane Umgang mit queeren Men-schen steht zwar in eklatantem Widerspruch zu dem ebenfalls in der Verfassung veran-kerten Grundsatz der Gleichheit aller Men-schen vor dem Gesetz, doch ändert das nichts daran, dass Japan auch weiterhin kei-ne Möglichkeiten für eine echte Homo-Ehe bietet. Viele Kommunen bieten zwar eine standesamtliche Registrierung der Partner-schaften an, rechtliche Vorteile können die Betroenen daraus aber nicht ziehen.Dass dies in der Gesellschaft nicht ohne Auswirkungen bleibt, ist logisch. Ge-rade unter jugendlichen Queers sind die Ne-gativfolgen immens: So leiden laut Journa-list Wieland Wagner in besagtem Artikel 70 % aller queeren Schüler*innen im Schul-alltag unter Diskriminierung und Unver-ständnis, 50 % von ihnen haben sogar be-reits einen Suizidversuch hinter sich, so massiv ist der Druck auf sie. Zudem fühlen sich die meisten als Aussenseiter*innen, da ihnen im Alltag wenig Verständnis entge-gengebracht wird und sie kaum auf Solida-rität hoen können. Dies hängt auch mit dem japanischen Erziehungsideal zusammen, das vor allem die Anpassung als oberstes Ziel postuliert. Aber wie soll sich ein schwuler Jugendlicher oder eine tran* Person an eine heteronor-mative Gesellschaft anpassen? Dies geht ei-gentlich nur über Verleugnung des eigenen Ichs und der eigenen Bedürfnisse. Homeoffice schützt schwule ArbeitsnehmerFür viele Japaner*innen war daher Corona fast ein Segen, da mit der Möglichkeit des Homeoce sowohl das Arbeiten als auch die Jobsuche wesentlich erleichtert wurde. Immerhin muss man sich nicht mehr täglich in die Höhle der Löwen begeben und sich Anfeindungen aussetzen. Wenn man sich vor Augen hält, wie wichtig das Arbeiten in der japanischen Gesellschaft ist und mit welcher Intensität Arbeitnehmer*innen sich für ihre Arbeitgeber*innen einsetzen, kann man die Erleichterung vorstellen, die sich durch die Arbeit im Homeoce breitmacht.Kento Hoshi hat erkannt, dass die Ar-beitswelt und der Umgang mit LGBT*s ver-besserungsfähig sind und hat daher eine eigene Job-Agentur gegründet. «Job Rain-bow» wendet sich gezielt an queeres Klien-tel. Wie notwendig diese Dierenzierung auf dem Arbeitsmarkt war, zeigen die Mit-gliederzahlen. «Job Rainbow» zählt inzwi-schen mehr als 370 000 Nutzer*innen und 550 Partner*innenunternehmen. Das mag auf die Einwohnerzahl Japans nicht ausser-ordentlich viel klingen, aber es ist ein wich-tiger Anfang, wenn man bedenkt, dass es für die meisten japanischen Arbeitneh-mer*innen völlig abwegig wäre, sich am Ar-beitsplatz zu outen – was dann auch das Outing von Shinjiro Atae nochmals als be-sonders mutig erscheinen lässt, schliesslich hat er sich während einer Veranstaltung, also an seinem Arbeitsplatz, an seine Fans gewandt. Raus aus dem VersteckNoch vor wenigen Jahren gingen daher auch viele queere Japaner*innen lieber eine Scheinehe ein, als sich dem Druck der Ge-sellschaft auszusetzen.Dass Gays noch nicht im Lebensalltag angekommen sind, zeigt sich auch in den in Japan so beliebten Mangas, deren schwule Abteilung, die so genannten «gay comics», immer noch eine Randerscheinung sind. Auch im TV werden Schwule meist kli-scheehaft dargestellt. Sie treten in der Regel absolut tuntig auf, wirken weiblich bis in-fantil, was zum einen weder der Wirklich-keit entspricht noch dazu beiträgt, der Fern-sehcommunity ein realistisches Bild von Schwulen zu zeigen.Daher ist es umso wichtiger, dass Pro-mis wie Atae aus dem Versteck und aus der Nische heraustreten, um zu zeigen, dass Queers ein Teil der japanischen Gesell-schaft sind, ohne die diese ärmer und trau-riger wäre.Vielleicht kann auch der Spiellm von Kore-eda Hirokazu etwas zur Aufklärung beitragen und dadurch Vorurteile minimie-ren. Immerhin ist der Regisseur kein Unbe-kannter und erhielt schon 2018 die Goldene Palme für seinen Film «Shoplifters». Weite-re Infos zum Film s. S. 28. Links: Im Film «Monster» von Kore-eda Hirokazu hat Minato in der Schule Probleme, bald erfahren die Zu- schauer*innen wieso: Der Junge ist schwul. Rechts: Die so genannten «gay comics» sind in Japan bisher noch eine Randerscheinung trotz der Beliebtheit von Mangas im Allgemeinen.Ein schwuler Popstar? Da gibt es sicherlich grössere Sensationen. Eben nicht, wenn man in Japan zu Hause ist. Der 35-jährige Atae, dessen Karriere bereits im Jahr 2005 begann, ist (nahezu) ein Einzelfall unter prominenten Japanern.Das Dahinscheiden einer Sauna ist kein schönes Zeichen. Tragen wir also Sorge zu dem, was wir noch haben. Geht alle hin, ihr netten, geilen Typen. Und pflegt unsere schwule Kultur.Bilder © ZVG / Wikimedia Commons

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18 19CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024Am 28. September 2023 erhielt ein weiteres homosexuelles Nazi-Opfer sein Denkmal und seinen Grabstein, diesmal in St. Gallen. VON ERNST OSTERTAG«Stolpersteine» erinnern meist an jüdische Menschen, die im Nazi-Terror umkamen. Aber die Ge-schichte lehrt uns, dass dort, wo Juden dia-miert werden, auch das Ausgrenzen und Ver- Ein zweiter Stolpersteinfolgen von Homosexuellen geschieht oder geschehen wird. Wo Hass seine Fratze oen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit, frisst sich ins Fühlen und Denken und macht aus Menschen einseitige Follower, blinde Sklaven jenes Trends, der Hass transportiert. Nazi-Faschismus kennt nur Gut oder Böse und schaltet selbständiges Denken aus. Wir erleben das jetzt. Darum brauchen wir Stol-persteine. Das Stolpern weckt auf.Hey, was geschieht jetzt? Weil Krieg herrscht. Weil Ängste da sind. Weil wir et-was tun wollen. Jene, denen Stolpersteine gelten, waren einmal Sündenböcke. Man eliminierte sie, Unschuldige, weil man die Eigentlichen nicht treen konnte oder wollte. Und machte sich selbst zum Sünder. Das muss und das kann gestoppt werden. In unseren Köpfen. Immer wieder. Stolper-Bild links © ZVG / Brief © BArch R 3018/3640, Bundesarchiv / ZVG«Gott ist ‹Liebe› und geht man von dieser Prämisse aus, passt ein diskriminierender Gott nicht dazu.» Nicole BecherAm 22.3.1943 versuchte er zu seiner Mutter nach St. Gallen zurückzukehren. Doch in Lustenau wurde er von einer Polizeistreife aufgegriffen und schliesslich wegen «Feindbegünstigung» zum Tode verurteilt.Abschiedsbrief von Arthur Vogt an seine Mutter, 16. Juni 1944: Darin bittet er beschei-den um Obst, Brot und Kastanien aber «so lange ich noch lebe».VERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLEVERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLEsteine lassen nachdenken. Wir erinnern darum jetzt an einen. Jahresanfang ist Zeit des Nachdenkens.Arthur Bernhard Vogt: «Ein Schwie-riger»Der St. Galler Stein gilt einem «Schwieri-gen», der nur Pech und Pannen erlebte: Ar-thur Bernhard Vogt. Geboren in der Schweiz 1912, aber Ausländer wie sein Vater. Die Mutter, Schweizerin, verlor ihr Bürger-recht. Das war Gesetz, wenn sie einen Aus-länder heiratete. Und ihre Kinder waren alle ebenfalls Ausländer, kaum hatten sie ihren ersten Schrei getan. Sie hatte zwei Bu-ben. 1914 musste der Vater als Bürger des Habsburger Kaiserreichs in den Krieg. Zu-rück kam er 1918 als Bürger der neuen ➔

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18 19CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024Am 28. September 2023 erhielt ein weiteres homosexuelles Nazi-Opfer sein Denkmal und seinen Grabstein, diesmal in St. Gallen. VON ERNST OSTERTAG«Stolpersteine» erinnern meist an jüdische Menschen, die im Nazi-Terror umkamen. Aber die Ge-schichte lehrt uns, dass dort, wo Juden dia-miert werden, auch das Ausgrenzen und Ver- Ein zweiter Stolpersteinfolgen von Homosexuellen geschieht oder geschehen wird. Wo Hass seine Fratze oen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit, frisst sich ins Fühlen und Denken und macht aus Menschen einseitige Follower, blinde Sklaven jenes Trends, der Hass transportiert. Nazi-Faschismus kennt nur Gut oder Böse und schaltet selbständiges Denken aus. Wir erleben das jetzt. Darum brauchen wir Stol-persteine. Das Stolpern weckt auf.Hey, was geschieht jetzt? Weil Krieg herrscht. Weil Ängste da sind. Weil wir et-was tun wollen. Jene, denen Stolpersteine gelten, waren einmal Sündenböcke. Man eliminierte sie, Unschuldige, weil man die Eigentlichen nicht treen konnte oder wollte. Und machte sich selbst zum Sünder. Das muss und das kann gestoppt werden. In unseren Köpfen. Immer wieder. Stolper-Bild links © ZVG / Brief © BArch R 3018/3640, Bundesarchiv / ZVG«Gott ist ‹Liebe› und geht man von dieser Prämisse aus, passt ein diskriminierender Gott nicht dazu.» Nicole BecherAm 22.3.1943 versuchte er zu seiner Mutter nach St. Gallen zurückzukehren. Doch in Lustenau wurde er von einer Polizeistreife aufgegriffen und schliesslich wegen «Feindbegünstigung» zum Tode verurteilt.Abschiedsbrief von Arthur Vogt an seine Mutter, 16. Juni 1944: Darin bittet er beschei-den um Obst, Brot und Kastanien aber «so lange ich noch lebe».VERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLEVERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLEsteine lassen nachdenken. Wir erinnern darum jetzt an einen. Jahresanfang ist Zeit des Nachdenkens.Arthur Bernhard Vogt: «Ein Schwie-riger»Der St. Galler Stein gilt einem «Schwieri-gen», der nur Pech und Pannen erlebte: Ar-thur Bernhard Vogt. Geboren in der Schweiz 1912, aber Ausländer wie sein Vater. Die Mutter, Schweizerin, verlor ihr Bürger-recht. Das war Gesetz, wenn sie einen Aus-länder heiratete. Und ihre Kinder waren alle ebenfalls Ausländer, kaum hatten sie ihren ersten Schrei getan. Sie hatte zwei Bu-ben. 1914 musste der Vater als Bürger des Habsburger Kaiserreichs in den Krieg. Zu-rück kam er 1918 als Bürger der neuen ➔

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21CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024RUBRIKENTITELRUBRIKENUNTERTITEL20CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024tschechoslowakischen Republik, seine Front-Traumata ersäufte er im Alkohol. Dennoch brachte er die Familie als Schnei-der durch, zusammen mit der Frau, die in der Stickerei arbeitete. Wo und wie die Bu-ben den Tag verbrachten, das ist in keinen Akten aufgezeichnet. Der ältere wurde Coif-feur, der jüngere, Arthur Vogt, dem nun der Stein gewidmet ist, zog mit 16 aus.Dieser Artikel ist neu auf der Website Schwulen-geschichte.ch erschienen. Sie schildert die Schweizerische Schwulenemanzipation von ihren Anfängen bis in die Gegenwart samt den Verbin-dungen ins Ausland. Sie wird laufend erneuert. Sie benutzt dabei hauptsächlich Bestände des Schwulenarchivs Schweiz (SAS). Zeittafeln, Per-sonen- und Sachregister erleichtern den Zugang und weitergehende Forschungen. Ein Verein er-möglicht alle diese Arbeiten und das Funktionie-ren der Website, die in ihrer Vielfalt weltweit noch immer einmalig ist. Er ist aber dringend auf Mitglieder und Spenden angewiesen. Alle Infos direkt auf der Website oder via QR-Code.Der gemeinnützige Verein Stolpersteine Schweiz engagiert sich für das Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus, die zumindest einen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbrachten, von den Schweizer Behörden nicht oder unzurei-chend geschützt oder gar an Nazideutschland ausgeliefert wurden.Arthur Bernhard Vogt war homose-xuell und lebte im Dauerstreit mit dem Va-ter. Er war 1.92 m gross und stark, wohnte mal da, mal dort, arbeitete meist als Hotel-bursche oder Portier, lag ständig mit Be-hörden im Clinch, wegen «unsittlichen Handlungen», Diebstählen, Mittellosigkeit. Er wurde regelmässig aufgegrien, gele-gentlich vor Gericht gestellt und für einige Tage ins Gefängnis gesteckt oder als Auslän-der in die ursprüngliche Wohngemeinde St. Gallen zurückgebracht. Dort setzte man bis zur Volljährigkeit einen Vormund ein.Aus der Schweiz ausgeschafft1934, als er 22 war, erfolgte der behördliche Entscheid, ihm die Niederlassung zu entzie-hen. Man stellte Arthur Vogt per Ausschaf-fungsbefehl in Basel an die Grenze des Deutschen Reiches. Wenige Wochen später kehrte er beim österreichischen Lustenau über den Rhein wieder zurück, denn er sah nicht, was er in seiner angeblichen tsche-chischen Heimat tun sollte. Noch nie war er dort gewesen, auch die Sprache war ihm fremd. Erneut führte er dasselbe Leben wie zuvor als Hotelbursche an den verschie-densten Orten in der Schweiz und wieder-um kassierte er kurze Gefängnisstrafen we-gen derselben Delikte. Schliesslich schritt das Eidgenössische Justiz- und Polizeide-partement ein, verhängte die denitive Ausschaung und vollzog sie sofort. Das geschah im März 1937 mit einem Bahnbil-lett von St. Margrethen direkt nach Eger an der tschechischen Grenze. Nun blieb Ar-thur im Hitlerreich, das ihn mit seinem neu verschärften Homosexuellen-Paragraphen akut gefährdete und 1938 zudem vom «Su-detendeutschen» zum Reichsbürger mach-te. Mit Kriegsbeginn ein Jahr später musste er jederzeit die Einberufung an die Front erwarten. Die Lage wurde für Arthur Bern-hard Vogt zusehends bedrohlicher.Zum Tod verurteiltSo versuchte er noch einmal, im März 1943, die Flucht in die Schweiz, wiederum bei Lustenau. Aber sie misslang, er wurde ge-fasst, in Feldkirch verhört und in München eingekerkert. Das Hakenkreuz des Reiches war am Sinken: militärische Niederlagen an allen Fronten, die Städte mehr und mehr zerbombt. Und dazu kam das missglückte Attentat auf Hitler im April 1944. Die Nazis, nervös, eliminierten jeden Reichsgegner er-barmungslos. Der Volksgerichtshof Berlin stellte für Arthur Bernhard Vogt das Todes-urteil aus wegen Feindbegünstigung und Entzug der Arbeitskraft durch Fluchtver-such. Es wurde am 12. September 1944 durch das Fallbeil vollstreckt. Nazi-Faschismus kennt nur Gut oder Böse und schaltet selb-ständiges Denken aus. Wir erle-ben das jetzt. Darum brauchen wir Stolpersteine. Das Stolpern weckt auf.Wo Hass seine Fratze offen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit, frisst sich ins Fühlen und Denken und macht aus Menschen einseitige Follower, blinde Sklaven jenes Trends, der Hass transportiert.Arthur Vogt geboren 24. 7. 1912 in Gossau / St. Gal-len, gestorben 12. 9. 1944 in München. Vogt wuchs in St. Gallen auf und wurde in der Schweiz wegen Homosexualität, damals ein strafbares Delikt, mehrfach verurteilt. Hier ein Bild von ca. 1940.Bild © Familienarchiv Fuchsmit dem Sitzplatz-Upgrade.Näher dranDank uns jedes Detail sehen. Als Hauptsponsorin des Schauspielhaus Zürich ermöglichen wir unseren Kundinnen und Kunden eine bessere Sitzkategorie. zkb.ch/schauspielhausANZEIGEVERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLE

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21CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024RUBRIKENTITELRUBRIKENUNTERTITEL20CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024tschechoslowakischen Republik, seine Front-Traumata ersäufte er im Alkohol. Dennoch brachte er die Familie als Schnei-der durch, zusammen mit der Frau, die in der Stickerei arbeitete. Wo und wie die Bu-ben den Tag verbrachten, das ist in keinen Akten aufgezeichnet. Der ältere wurde Coif-feur, der jüngere, Arthur Vogt, dem nun der Stein gewidmet ist, zog mit 16 aus.Dieser Artikel ist neu auf der Website Schwulen-geschichte.ch erschienen. Sie schildert die Schweizerische Schwulenemanzipation von ihren Anfängen bis in die Gegenwart samt den Verbin-dungen ins Ausland. Sie wird laufend erneuert. Sie benutzt dabei hauptsächlich Bestände des Schwulenarchivs Schweiz (SAS). Zeittafeln, Per-sonen- und Sachregister erleichtern den Zugang und weitergehende Forschungen. Ein Verein er-möglicht alle diese Arbeiten und das Funktionie-ren der Website, die in ihrer Vielfalt weltweit noch immer einmalig ist. Er ist aber dringend auf Mitglieder und Spenden angewiesen. Alle Infos direkt auf der Website oder via QR-Code.Der gemeinnützige Verein Stolpersteine Schweiz engagiert sich für das Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus, die zumindest einen Teil ihres Lebens in der Schweiz verbrachten, von den Schweizer Behörden nicht oder unzurei-chend geschützt oder gar an Nazideutschland ausgeliefert wurden.Arthur Bernhard Vogt war homose-xuell und lebte im Dauerstreit mit dem Va-ter. Er war 1.92 m gross und stark, wohnte mal da, mal dort, arbeitete meist als Hotel-bursche oder Portier, lag ständig mit Be-hörden im Clinch, wegen «unsittlichen Handlungen», Diebstählen, Mittellosigkeit. Er wurde regelmässig aufgegrien, gele-gentlich vor Gericht gestellt und für einige Tage ins Gefängnis gesteckt oder als Auslän-der in die ursprüngliche Wohngemeinde St. Gallen zurückgebracht. Dort setzte man bis zur Volljährigkeit einen Vormund ein.Aus der Schweiz ausgeschafft1934, als er 22 war, erfolgte der behördliche Entscheid, ihm die Niederlassung zu entzie-hen. Man stellte Arthur Vogt per Ausschaf-fungsbefehl in Basel an die Grenze des Deutschen Reiches. Wenige Wochen später kehrte er beim österreichischen Lustenau über den Rhein wieder zurück, denn er sah nicht, was er in seiner angeblichen tsche-chischen Heimat tun sollte. Noch nie war er dort gewesen, auch die Sprache war ihm fremd. Erneut führte er dasselbe Leben wie zuvor als Hotelbursche an den verschie-densten Orten in der Schweiz und wieder-um kassierte er kurze Gefängnisstrafen we-gen derselben Delikte. Schliesslich schritt das Eidgenössische Justiz- und Polizeide-partement ein, verhängte die denitive Ausschaung und vollzog sie sofort. Das geschah im März 1937 mit einem Bahnbil-lett von St. Margrethen direkt nach Eger an der tschechischen Grenze. Nun blieb Ar-thur im Hitlerreich, das ihn mit seinem neu verschärften Homosexuellen-Paragraphen akut gefährdete und 1938 zudem vom «Su-detendeutschen» zum Reichsbürger mach-te. Mit Kriegsbeginn ein Jahr später musste er jederzeit die Einberufung an die Front erwarten. Die Lage wurde für Arthur Bern-hard Vogt zusehends bedrohlicher.Zum Tod verurteiltSo versuchte er noch einmal, im März 1943, die Flucht in die Schweiz, wiederum bei Lustenau. Aber sie misslang, er wurde ge-fasst, in Feldkirch verhört und in München eingekerkert. Das Hakenkreuz des Reiches war am Sinken: militärische Niederlagen an allen Fronten, die Städte mehr und mehr zerbombt. Und dazu kam das missglückte Attentat auf Hitler im April 1944. Die Nazis, nervös, eliminierten jeden Reichsgegner er-barmungslos. Der Volksgerichtshof Berlin stellte für Arthur Bernhard Vogt das Todes-urteil aus wegen Feindbegünstigung und Entzug der Arbeitskraft durch Fluchtver-such. Es wurde am 12. September 1944 durch das Fallbeil vollstreckt. Nazi-Faschismus kennt nur Gut oder Böse und schaltet selb-ständiges Denken aus. Wir erle-ben das jetzt. Darum brauchen wir Stolpersteine. Das Stolpern weckt auf.Wo Hass seine Fratze offen zeigt, wird er zur ansteckenden Krankheit, frisst sich ins Fühlen und Denken und macht aus Menschen einseitige Follower, blinde Sklaven jenes Trends, der Hass transportiert.Arthur Vogt geboren 24. 7. 1912 in Gossau / St. Gal-len, gestorben 12. 9. 1944 in München. Vogt wuchs in St. Gallen auf und wurde in der Schweiz wegen Homosexualität, damals ein strafbares Delikt, mehrfach verurteilt. Hier ein Bild von ca. 1940.Bild © Familienarchiv Fuchsmit dem Sitzplatz-Upgrade.Näher dranDank uns jedes Detail sehen. Als Hauptsponsorin des Schauspielhaus Zürich ermöglichen wir unseren Kundinnen und Kunden eine bessere Sitzkategorie. zkb.ch/schauspielhausANZEIGEVERFOLGUNGSTOLPERSTEINE FÜR HOMOSEXUELLE

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22 23CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURSCHAUSPIELHAUSKULTURFEMINISMUS IM PFAUENIch spiele, also bin ich nichtVON VALERIA HEINTGES Nach über zweieinhalb Stunden ist die Inszenierung schon fast an ihr Ende gekommen. Da fragt Wiebke Mollen-hauer, in der Rolle der Nina, Benjamin Lillie, in der Rolle des Kostja, ob er hören will, was wirklich geschah zwischen dem Schriftsteller Trigorin und ihr. «Wenn du es erzählen willst», sagt Kostja. Darauf sie: «Ist ja egal, ob ich will oder nicht. Ist ja schliess-lich meine Rolle.»Christopher Rüping hat in Zürich in-szeniert, dass sieben Darsteller*innen spie-len, dass sie Anton Tschechows «Die Möwe» auühren. Permanent, drei Stunden lang, spielen sie, dass sie sich nie ganz mit ihren Figuren identizieren, zeigen, dass und wie sie sich den Rollen nähern. Als täten sie es gegen ihren Willen, als fänden sie das Stück über lange Strecken schlecht, zu sim-pel, zu gestrig, zu sehr aus ihrer eigenen, heutigen Zeit gefallen. Als würden sie nur hin und wieder mit einzelnen Sätzen, ein-zelnen Haltungen etwas anfangen können (wobei sie recht nah an der Übersetzung von omas Brasch bleiben, aber sie immer wieder kommentierend mit ihren Ein-sprengseln unterlaufen oder sich Sätze an-derer Personen aneignen). Diese Heran-gehensweise stellen sie permanent aus. Sie tun das allesamt professionell und auf ho-hem Spielniveau, schliesslich ist auch das Nicht-Spielen ebenso ein Spielen, egal, wie oft man es bricht. Dabei ist die Bühne natürlich leer. Sie deklamieren die Regieanweisung vom Park, vom See – aber man sieht davon nichts. Eine*r nach dem*r anderen kommen sie auf die Bühne, setzen sich auf Hocker hinten und an den Seitenwänden, nehmen auch mal Kostüme (Tutia Schaad), die oen auf einem Ständer hängen. Die sind zunächst zeitlos, weite Hosen, iessende Gewänder für alle, klobig-hohe Schuhen für die Frau-en, die ihnen einen eckigen Gang aufzwin-gen. Alles hier sagt, nein: schreit: «Distanz! Wir sind autarke, denkende Menschen, wir sprechen doch nicht irgendwelche Texte, die uns vorgelegt werden!»Dafür tun sie zunächst genau das: Sie sprechen, als wären ihnen die Sätze unbe-kannt, gänzlich fremd. Sie leiern sie, kom-mentieren sie mit Mimik und Gesten, über-treiben, persiieren, brechen aus, fangen von vorn an. Die Geschichte der Möwe, die am See aufwächst und von einem Mann aus Langeweile zerstört wird und in der sich Ni-nas Schicksal spiegelt, sprechen sie vier Mal, bis Wiebke Mollenhauer über Lillies Worten nicht mehr in Lachen ausbrechen muss. Die Möwe selbst sieht übrigens nie, sie landet nur in einer billigen Plastiktüte auf den Bühnenbrettern. Maja Beckmann versucht, die Mutter eines 25-Jährigen zu spielen. Eine Rolle, die sie mit übergrigen Berührungen adäquat darzustellen glaubt. Lillie krächzt den 25-jährigen Kostja, als wäre man in dem Al-ter noch im Stimmbruch. Sie spielen also nicht nur das Spiel im Spiel, sondern auch Ann Ayano, Wiebke Mollenhauer, Moses Leo, Maja Beckmann spielen drei Stunden lang «ich kann mich nicht mit meiner Figur identifizieren» und «nähere mich meiner Rolle».Wiebke Mollenhauer, Benjamin LillieSpielen formvollendet das Nicht-Spielen: Moses Leo, Maja Beckmann und Lena Schwarz auf Jonathan Mertz’ Bühne.das Scheitern dieses Spiels. Gehen dafür auch mit riesigen Schritten ohne jede Dra-maturgie auf ihr Ziel los, etwa wenn Wiebke Mollenhauer als Nachwuchsschauspielerin Nina von der ersten Sekunde an den be-rühmten Schriftsteller Trigorin anschmach-tet, weil ihre Nina den laut Text eben toll zu nden hat. Nur Moses Leo als Schriftsteller Trigorin spielt diese Doppelbödigkeit nicht – dafür ist er prompt der wohl schweigsamste Trigorin der eatergeschichte. Später wer-den sie mit Versatzstücken wie Reifröcken, Schleifen und Tüllbändern immer tiefe in die Vergangenheit schreiten, Requisiten werden erscheinen und der – natürlich iro-nisch verfremdete – Mond aufgehen (Bühne Jonathan Mertz). Aber die Distanz zum Text, die werden sie nie verlieren. Warum aber, so fragt man sich schon bald, hat die Truppe sich überhaupt Tsche-chows «Möwe» vorgenommen? Was wollen sie mit dem Stück? Darauf gibt die Insze-nierung diverse, mehr oder weniger über-zeugende Argumente. Zum einen bietet das Werk eine Auseinandersetzung über mo-derne und veraltete Kunst, zum anderen lässt es dafür die Generationen aufeinan-derkrachen. Beide Aspekte haben Rüping deutlich interessiert, vermengt drittens mit der Tatsache, dass der 38-jährige Haus-regisseur das vorzeitige Ende der Intendanz Nikolaus Stemann und Benjamin von Blom-berg anscheinend so deutet, dass hier die jungen, wilden, mutigen Künstler krachend an dem Geschmack der älteren Generation gescheitert sei: «Wenn’s kein neues eater gibt, dann lieber keins», wie Kostja sagt. Eine Lesart, die höchstens ein Aspekt der doch etwas komplexeren Wahrheit ist – und die den Abend tatsächlich zu einem sehr zürcherischen werden lässt. Wenn Kostja mit seinem höchst expres-siven, modernen Werk vor den Augen der Mutter scheitert, dann scheitert hier auch der junge, mutige Autor vor einer Schauspie-lerin, die zwar berühmt und gefeiert ist, aber auch in einem sehr konservativen, sterbens-langweiligen, völlig gestrigen Kunstbegri verhaftet ist. Das Diktum von Mascha, die sich nicht für eine neue oder alte eaterdra-maturgie entscheiden will, sondern ndet: «Dabei ist doch Platz für alle, oder nicht», glaubt die Inszenierung augenscheinlich selbst nicht. Im Gegenteil baut Rüping die Persiage eines Gerhart-Hauptmann-Stücks so ein, dass man sie nur als brutale Nichtach-tung von Armut und Ungerechtigkeit lesen kann – Spiel im Spiel hin oder her. Der Aspekt des Geldes, der gesellschaftlichen Stellung, letztlich: der Politik scheint Rüping nicht zu interessieren. Jede*r darf selbst für sich ur-teilen, ob er oder sie das in unserer Zeit ge-rechtfertigt und angemessen ndet. Doch strauchelt das legitime Experi-ment, einen Klassiker zu spielen und sich gleichzeitig mit dessen Klassiker-Dasein auseinanderzusetzen, auch über der Tat-sache, dass das ausstellende Spiel auf Dauer sehr mühsam anzusehen ist. Auch merkt man ihm – trotz einem übermässig kitschi-gen Ende, bei dem sich keiner umbringt, sondern alle Party feiern – den Anspruch der Rechthaberei allzu deutlich an. Bilder © Orpheas EmirzasDas «Blutbuch» als eaterstück! Nach dem Roman von Kim de l’Horizon entstand das «Blutstück». Wir verlosen 2 x 2 Tickets für die Auührung am 24. Februar.Teilnahme auf www.cruiser.chTradierte gegen neue Kunst? Alte versus junge Generation? Da kommen manchen Zuschauer*innen im Zürcher Pfauen recht konkrete Assoziationen.Die Möwe von Anton TschechowRegie: Christopher Rüping, Bühnenbild: Jonathan Mertz, Kostümbild: Tutia Schaad, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Moritz Frischkorn. Mit: Ann Ayano, Maja Beckmann, Moses Leo, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Lena Schwarz, Steven Sowah.Premiere am 22. Dezember 2023. Dauer: 3 Stunden, eine Pause. www.schauspielhaus.ch

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22 23CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURSCHAUSPIELHAUSKULTURFEMINISMUS IM PFAUENIch spiele, also bin ich nichtVON VALERIA HEINTGES Nach über zweieinhalb Stunden ist die Inszenierung schon fast an ihr Ende gekommen. Da fragt Wiebke Mollen-hauer, in der Rolle der Nina, Benjamin Lillie, in der Rolle des Kostja, ob er hören will, was wirklich geschah zwischen dem Schriftsteller Trigorin und ihr. «Wenn du es erzählen willst», sagt Kostja. Darauf sie: «Ist ja egal, ob ich will oder nicht. Ist ja schliess-lich meine Rolle.»Christopher Rüping hat in Zürich in-szeniert, dass sieben Darsteller*innen spie-len, dass sie Anton Tschechows «Die Möwe» auühren. Permanent, drei Stunden lang, spielen sie, dass sie sich nie ganz mit ihren Figuren identizieren, zeigen, dass und wie sie sich den Rollen nähern. Als täten sie es gegen ihren Willen, als fänden sie das Stück über lange Strecken schlecht, zu sim-pel, zu gestrig, zu sehr aus ihrer eigenen, heutigen Zeit gefallen. Als würden sie nur hin und wieder mit einzelnen Sätzen, ein-zelnen Haltungen etwas anfangen können (wobei sie recht nah an der Übersetzung von omas Brasch bleiben, aber sie immer wieder kommentierend mit ihren Ein-sprengseln unterlaufen oder sich Sätze an-derer Personen aneignen). Diese Heran-gehensweise stellen sie permanent aus. Sie tun das allesamt professionell und auf ho-hem Spielniveau, schliesslich ist auch das Nicht-Spielen ebenso ein Spielen, egal, wie oft man es bricht. Dabei ist die Bühne natürlich leer. Sie deklamieren die Regieanweisung vom Park, vom See – aber man sieht davon nichts. Eine*r nach dem*r anderen kommen sie auf die Bühne, setzen sich auf Hocker hinten und an den Seitenwänden, nehmen auch mal Kostüme (Tutia Schaad), die oen auf einem Ständer hängen. Die sind zunächst zeitlos, weite Hosen, iessende Gewänder für alle, klobig-hohe Schuhen für die Frau-en, die ihnen einen eckigen Gang aufzwin-gen. Alles hier sagt, nein: schreit: «Distanz! Wir sind autarke, denkende Menschen, wir sprechen doch nicht irgendwelche Texte, die uns vorgelegt werden!»Dafür tun sie zunächst genau das: Sie sprechen, als wären ihnen die Sätze unbe-kannt, gänzlich fremd. Sie leiern sie, kom-mentieren sie mit Mimik und Gesten, über-treiben, persiieren, brechen aus, fangen von vorn an. Die Geschichte der Möwe, die am See aufwächst und von einem Mann aus Langeweile zerstört wird und in der sich Ni-nas Schicksal spiegelt, sprechen sie vier Mal, bis Wiebke Mollenhauer über Lillies Worten nicht mehr in Lachen ausbrechen muss. Die Möwe selbst sieht übrigens nie, sie landet nur in einer billigen Plastiktüte auf den Bühnenbrettern. Maja Beckmann versucht, die Mutter eines 25-Jährigen zu spielen. Eine Rolle, die sie mit übergrigen Berührungen adäquat darzustellen glaubt. Lillie krächzt den 25-jährigen Kostja, als wäre man in dem Al-ter noch im Stimmbruch. Sie spielen also nicht nur das Spiel im Spiel, sondern auch Ann Ayano, Wiebke Mollenhauer, Moses Leo, Maja Beckmann spielen drei Stunden lang «ich kann mich nicht mit meiner Figur identifizieren» und «nähere mich meiner Rolle».Wiebke Mollenhauer, Benjamin LillieSpielen formvollendet das Nicht-Spielen: Moses Leo, Maja Beckmann und Lena Schwarz auf Jonathan Mertz’ Bühne.das Scheitern dieses Spiels. Gehen dafür auch mit riesigen Schritten ohne jede Dra-maturgie auf ihr Ziel los, etwa wenn Wiebke Mollenhauer als Nachwuchsschauspielerin Nina von der ersten Sekunde an den be-rühmten Schriftsteller Trigorin anschmach-tet, weil ihre Nina den laut Text eben toll zu nden hat. Nur Moses Leo als Schriftsteller Trigorin spielt diese Doppelbödigkeit nicht – dafür ist er prompt der wohl schweigsamste Trigorin der eatergeschichte. Später wer-den sie mit Versatzstücken wie Reifröcken, Schleifen und Tüllbändern immer tiefe in die Vergangenheit schreiten, Requisiten werden erscheinen und der – natürlich iro-nisch verfremdete – Mond aufgehen (Bühne Jonathan Mertz). Aber die Distanz zum Text, die werden sie nie verlieren. Warum aber, so fragt man sich schon bald, hat die Truppe sich überhaupt Tsche-chows «Möwe» vorgenommen? Was wollen sie mit dem Stück? Darauf gibt die Insze-nierung diverse, mehr oder weniger über-zeugende Argumente. Zum einen bietet das Werk eine Auseinandersetzung über mo-derne und veraltete Kunst, zum anderen lässt es dafür die Generationen aufeinan-derkrachen. Beide Aspekte haben Rüping deutlich interessiert, vermengt drittens mit der Tatsache, dass der 38-jährige Haus-regisseur das vorzeitige Ende der Intendanz Nikolaus Stemann und Benjamin von Blom-berg anscheinend so deutet, dass hier die jungen, wilden, mutigen Künstler krachend an dem Geschmack der älteren Generation gescheitert sei: «Wenn’s kein neues eater gibt, dann lieber keins», wie Kostja sagt. Eine Lesart, die höchstens ein Aspekt der doch etwas komplexeren Wahrheit ist – und die den Abend tatsächlich zu einem sehr zürcherischen werden lässt. Wenn Kostja mit seinem höchst expres-siven, modernen Werk vor den Augen der Mutter scheitert, dann scheitert hier auch der junge, mutige Autor vor einer Schauspie-lerin, die zwar berühmt und gefeiert ist, aber auch in einem sehr konservativen, sterbens-langweiligen, völlig gestrigen Kunstbegri verhaftet ist. Das Diktum von Mascha, die sich nicht für eine neue oder alte eaterdra-maturgie entscheiden will, sondern ndet: «Dabei ist doch Platz für alle, oder nicht», glaubt die Inszenierung augenscheinlich selbst nicht. Im Gegenteil baut Rüping die Persiage eines Gerhart-Hauptmann-Stücks so ein, dass man sie nur als brutale Nichtach-tung von Armut und Ungerechtigkeit lesen kann – Spiel im Spiel hin oder her. Der Aspekt des Geldes, der gesellschaftlichen Stellung, letztlich: der Politik scheint Rüping nicht zu interessieren. Jede*r darf selbst für sich ur-teilen, ob er oder sie das in unserer Zeit ge-rechtfertigt und angemessen ndet. Doch strauchelt das legitime Experi-ment, einen Klassiker zu spielen und sich gleichzeitig mit dessen Klassiker-Dasein auseinanderzusetzen, auch über der Tat-sache, dass das ausstellende Spiel auf Dauer sehr mühsam anzusehen ist. Auch merkt man ihm – trotz einem übermässig kitschi-gen Ende, bei dem sich keiner umbringt, sondern alle Party feiern – den Anspruch der Rechthaberei allzu deutlich an. Bilder © Orpheas EmirzasDas «Blutbuch» als eaterstück! Nach dem Roman von Kim de l’Horizon entstand das «Blutstück». Wir verlosen 2 x 2 Tickets für die Auührung am 24. Februar.Teilnahme auf www.cruiser.chTradierte gegen neue Kunst? Alte versus junge Generation? Da kommen manchen Zuschauer*innen im Zürcher Pfauen recht konkrete Assoziationen.Die Möwe von Anton TschechowRegie: Christopher Rüping, Bühnenbild: Jonathan Mertz, Kostümbild: Tutia Schaad, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Moritz Frischkorn. Mit: Ann Ayano, Maja Beckmann, Moses Leo, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Lena Schwarz, Steven Sowah.Premiere am 22. Dezember 2023. Dauer: 3 Stunden, eine Pause. www.schauspielhaus.ch

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24 25CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURMusikalisch erfolgreich, doch unglücklich in erotischen Angelegenheiten: der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky.VON ALAIN SOREL Ob der russische Komponist Peter Tschaikowsky ahnte, dass er Unver-gängliches geschaen hatte, als er am 28. Oktober 1893 in St. Petersburg seine Sinfonie Nr. 6 in h-Moll in der Urauührung selber dirigierte, neun Tage vor seinem Tod? Wir wissen es nicht, aber sein Herzblut hatte er für dieses Werk vergossen. Als der homo-sexuelle Künstler das Werk schrieb, hatte er einen jungen Mann vor Augen, dem er es zueignete; die Widmung war Ausdruck sei-ner heftigen Zuneigung. Sie galt Tschaikowskys eigenem 22-jäh-rigen Neen, Wladimir Dawydow, dem Sohn seiner Schwester Alexandra, vom Kompo-nisten zärtlich «Bob» genannt. Der 53-Jäh-rige schrieb dem Neen zur Widmung des Musikstücks, das Programm der 6. Sinfonie solle «für alle ein Rätsel bleiben», es sei «durch und durch subjektiv». Gegenüber Bob äusserte er, er halte diese Sinfonie für die «beste und vor allem aufrichtigste all meiner Schöpfungen».Eine Gefühlswelt mit Bob im ZentrumMan kann sich gut vorstellen, wie Tschai-kowsky seine ganze Gefühlswelt, die sich um Dawydow drehte, in die vier Sätze gelegt hatte und der Adressat seiner Widmung die-ses sehr wohl verstand. Die Sinfonie hat un-ter dem Namen «Symphonie Pathétique» ihren festen Platz in der Musikgeschichte. Deren Siegeszug um die Welt sollte der Komponist nicht mehr erleben, aber dank der «Pathétique» sind auch Bobs Spuren, die er im Leben seines Onkels gesetzt hat, nicht ganz verwischt worden. «Pathetisch» im Sinne, in dem das Wort heute meist verstanden wird, also im Sinne von «übertrieben, allzu gefühlvoll», ist die sechste Sinfonie von Tschaikowsky im Übrigen ganz und gar nicht. Der Tonset-zer hat die richtige Dosierung für die Stim-mungen gefunden, für Traurigkeit und Ver-zweiung, Honung und Zuversicht, für Liebe und Tod. Dumpf sind die Töne, dann wieder hell und klar, die Melodie langsam und plätschernd, verhalten wie ein leises Murmeln, um dann rassig und schmissig zu werden. Tschaikowsky muss in der homoero-tisch-schwärmerischen Beziehung mit Wla - dimir – ob sie platonisch blieb oder doch sexuell ausgelebt wurde, bleibt umstritten – Himmel und Hölle durchgemacht haben: Der junge Mann war ein Verwandter von ihm und erst noch ein naher. Unterschwel-lig war da zweifellos stets der Gedanke prä-sent, eine verbotene Neigung zu haben. Und er muss sich wohl gesagt haben, dass der Altersunterschied eines Tages seinen Ge-fährten von ihm wegtreiben könnte. Langsame Selbstzerstörung des NeffenUnd doch: Der Musiker war selig, wenn Bob bei ihm war, und er litt Qualen der Ei-fersucht, wenn sie getrennt waren und Wla dimir Dawydow eigene Wege ging in ➔ SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURAls der Komponist seine Oper schrieb, sah er einen jungen Mann vor sich.Tod und Auferstehung in der Aufführung des Schwanensees von Peter TschaikowskiOb Tschaikowsky wirklich jemals so auf einer Bank gesessen hat? Im russischen Klin, Provinz Moskau, stellt man sich das jedenfalls so vor.ANZEIGECRUISER SOMMER 2017➔«Was geht mich meine Gesundheit an!» Wilhelm Nietzsche Wir sind die erste Adresse für diskrete Beratung in allen Gesundheitsfragen.Stampfenbachstr. 7, 8001 Zürich, Tel. 044 252 44 20, Fax 044 252 44 21 leonhards-apotheke@bluewin.ch, www.leonhards.apotheke.chIhr Gesu ndheits-Coach .Verzweifelt den eigenen Neffen geliebt

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24 25CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURMusikalisch erfolgreich, doch unglücklich in erotischen Angelegenheiten: der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky.VON ALAIN SOREL Ob der russische Komponist Peter Tschaikowsky ahnte, dass er Unver-gängliches geschaen hatte, als er am 28. Oktober 1893 in St. Petersburg seine Sinfonie Nr. 6 in h-Moll in der Urauührung selber dirigierte, neun Tage vor seinem Tod? Wir wissen es nicht, aber sein Herzblut hatte er für dieses Werk vergossen. Als der homo-sexuelle Künstler das Werk schrieb, hatte er einen jungen Mann vor Augen, dem er es zueignete; die Widmung war Ausdruck sei-ner heftigen Zuneigung. Sie galt Tschaikowskys eigenem 22-jäh-rigen Neen, Wladimir Dawydow, dem Sohn seiner Schwester Alexandra, vom Kompo-nisten zärtlich «Bob» genannt. Der 53-Jäh-rige schrieb dem Neen zur Widmung des Musikstücks, das Programm der 6. Sinfonie solle «für alle ein Rätsel bleiben», es sei «durch und durch subjektiv». Gegenüber Bob äusserte er, er halte diese Sinfonie für die «beste und vor allem aufrichtigste all meiner Schöpfungen».Eine Gefühlswelt mit Bob im ZentrumMan kann sich gut vorstellen, wie Tschai-kowsky seine ganze Gefühlswelt, die sich um Dawydow drehte, in die vier Sätze gelegt hatte und der Adressat seiner Widmung die-ses sehr wohl verstand. Die Sinfonie hat un-ter dem Namen «Symphonie Pathétique» ihren festen Platz in der Musikgeschichte. Deren Siegeszug um die Welt sollte der Komponist nicht mehr erleben, aber dank der «Pathétique» sind auch Bobs Spuren, die er im Leben seines Onkels gesetzt hat, nicht ganz verwischt worden. «Pathetisch» im Sinne, in dem das Wort heute meist verstanden wird, also im Sinne von «übertrieben, allzu gefühlvoll», ist die sechste Sinfonie von Tschaikowsky im Übrigen ganz und gar nicht. Der Tonset-zer hat die richtige Dosierung für die Stim-mungen gefunden, für Traurigkeit und Ver-zweiung, Honung und Zuversicht, für Liebe und Tod. Dumpf sind die Töne, dann wieder hell und klar, die Melodie langsam und plätschernd, verhalten wie ein leises Murmeln, um dann rassig und schmissig zu werden. Tschaikowsky muss in der homoero-tisch-schwärmerischen Beziehung mit Wla - dimir – ob sie platonisch blieb oder doch sexuell ausgelebt wurde, bleibt umstritten – Himmel und Hölle durchgemacht haben: Der junge Mann war ein Verwandter von ihm und erst noch ein naher. Unterschwel-lig war da zweifellos stets der Gedanke prä-sent, eine verbotene Neigung zu haben. Und er muss sich wohl gesagt haben, dass der Altersunterschied eines Tages seinen Ge-fährten von ihm wegtreiben könnte. Langsame Selbstzerstörung des NeffenUnd doch: Der Musiker war selig, wenn Bob bei ihm war, und er litt Qualen der Ei-fersucht, wenn sie getrennt waren und Wla dimir Dawydow eigene Wege ging in ➔ SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURAls der Komponist seine Oper schrieb, sah er einen jungen Mann vor sich.Tod und Auferstehung in der Aufführung des Schwanensees von Peter TschaikowskiOb Tschaikowsky wirklich jemals so auf einer Bank gesessen hat? Im russischen Klin, Provinz Moskau, stellt man sich das jedenfalls so vor.ANZEIGECRUISER SOMMER 2017➔«Was geht mich meine Gesundheit an!» Wilhelm Nietzsche Wir sind die erste Adresse für diskrete Beratung in allen Gesundheitsfragen.Stampfenbachstr. 7, 8001 Zürich, Tel. 044 252 44 20, Fax 044 252 44 21 leonhards-apotheke@bluewin.ch, www.leonhards.apotheke.chIhr Gesu ndheits-Coach .Verzweifelt den eigenen Neffen geliebt

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26 27CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024studiert und eine militärische Karriere ein-geschlagen. Morphium- und opiumabhän-gig, in Unordnung mit sich selbst erschoss er sich am 27. Dezember 1906. Katastrophe einer nie vollzogenen EheTschaikowsky selbst fühlte zeit seines Le-bens die Spannung zwischen seinem Eros und dem Wunsch, ein den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechendes Da-sein zu führen. In Russland war Homosexu-alität damals wie heute gebrandmarkt. Tschaikowskys sexuelle Ausrichtung be-deutete für ihn ein Aussenseiterdasein, er, der künstlerisch anerkannt war. Dieser Zwiespalt machte ihm zu schaen.Züge von sich selber hat Tschaikowsky in die Figur des zwar heterosexuell konzi-pierten, den gesellschaftlichen Konventio-nen aber dennoch nicht entsprechenden Eugen Onegin in seiner gleichnamigen Oper gelegt. Onegin gibt der ihn liebenden Tatjana eine Absage, weil er sich als untaug-lich für die Ehe betrachtet. Tschaikowsky stürzte sich, ganz im Unterschied zu seinem Titelhelden, in eine Ehe, die allerdings nie vollzogen wurde und Wochen später schon in einer Trennung mündete, weil er eben nicht geeignet für eine Verbindung mit ei-ner Frau war. Auf Bob blieb er nicht xiert; Tschai-kowsky holte sich abenteuerliche und ab-wechslungsreiche Freuden in der Gegenwelt seines Eros und genoss sie ohne Weiteres. Eine romantische Liebesbeziehung unter-hielt der Verfasser der drei weltberühmten Ballette «Schwanensee», «Dorn röschen» und «Der Nussknacker» auch mit seinem ehemaligen Schüler am Moskauer Konser-vatorium, dem Violinisten Iosif Kotek. Ein Russisches Roulette?Welch ein Leben, das am 7. Mai 1840 in Wotkinsk seinen Anfang genommen hatte. Es passt irgendwie zu dieser Biographie, dass sich um Tschaikowskys plötzliches Ende am 6. November 1893 in St. Peters-burg wilde Spekulationen rankten. War es ein Fememord oder ein versteckter Freitod? Vergiftete er sich mit Arsen auf Anweisung eines «Ehrengerichts», das ihn wegen sei-ner Homosexualität zum Tode verurteilt hatte? Oder trank er in der Stadt, in der die Cholera grassierte, nicht abgekochtes Was-ser? Und wenn ja, trank er es fahrlässig oder weil er von allem genug hatte, mit dem be-wusst eingegangenen Risiko, sich anzuste-cken und zu sterben? Wollte er den Ent-scheid über sein Schicksal Gott überlassen? Fast möchte man sagen, Peter Iljitsch Tschaikowsky hätte auch eine Oper mit dem Titel «Russisches Roulette» komponie-ren können. SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURMehr oder weniger versteckt findet sich das Thema Männerliebe in der Weltgeschichte, der Politik, in antiken Sagen und traditionellen Mär-chen – aber auch in Wissenschaft, Technik, Computerwelt. Cruiser greift einzelne Beispiele heraus, würzt sie mit etwas Fantasie, stellt sie in zeitgenössische Zusammenhänge und wünscht bei der Lektüre viel Spass – und hie und da auch neue oder zumindest aufgefrischte Erkenntnisse. In dieser Folge: ein russischer Komponist, der an seiner Veranlagung litt.Sachen Liebe, etwa in Bezug auf einen Studien kollegen und Altersgenossen. Aber Tschaikowsky sah oenbar ein, dass es Männer gab, die Bob näherstanden als er selbst. Doch sie trafen sich immer wieder, unternahmen Reisen zusammen, schrieben einander Briefe, in denen der eine dem an-deren sein Innerstes oenbarte. Bob überlebte den Onkel und Freund um 13 Jahre. Der Komponist musste die langsame Zerstörung des jungen Mannes nicht mehr mitansehen. Bob, am 14. De-zember 1871 geboren, hatte Jurisprudenz Der Komponist Peter Tschaikowski. Gravur durch Demchinsky. Veröffentlicht in der Zeitschrift «Niva», Verlag A.F. Marx, St. Petersburg, Russland, 1893Bild © PDCRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURBUCHTIPPDer Musiker war selig, wenn er mit seinem Neffen Bob zusammen war.BUCHTIPPTom Crewe: Das Neue Leben. Insel Verlag 2023.Preis CHF 34.90 ISBN 978-3-458-64387-6VON BIRGIT KAWOHLDas neue Jahr beginnen wir direkt mit einem Lese-Knüller, der den Nach-Weihnachts-Blues und die immer noch dunkle Jahreszeit subito vergessen lässt, weil man schnell alles um einen her-um vergisst, so nimmt einen die Geschichte von John und Henry gefangen, die der 1989 in Middlesbrough geborene Historiker Tom Crewe mit Sach- und Sprachverstand er-zählt.Die Geschichte beginnt im Jahr 1894, als sich zwei Männer schreiben und be-schliessen, ein Buch über Homosexualität zu schreiben. Ein Wort, das übrigens in dem Roman kaum vorkommt, weil es da-mals eben noch nicht üblich war, von Ho-mosexualität zu sprechen, wenn man über-haupt über Sexualität sprach. Stattdessen ndet man Bezeichnungen wie «Invertier-te» oder «warme Brüder». Dass man nicht darüber spricht und auch noch nicht wirk-lich Begrie für gleichgeschlechtlich Lie-bende hat, ist die eine Sache. Viel schlim-mer ist, dass man diese Form der Sexualität nicht nur nicht anerkennt und sogar leug-net, nein, die Betroenen werden denun-ziert, verfolgt und (nicht zu knapp) bestraft. U. a. mit jahrelangen Zuchthausstrafen, wie es zum Beispiel Oscar Wilde erging, der 1895 wegen «Unzucht» zu zwei Jahren Zuchthaus mit harter Zwangsarbeit verur-teilt wurde. Trotzdem gibt es zu dieser Zeit natür-lich Homosexuelle, die sich entweder ver-biegen und ein bürgerlich-angesehenes Le-ben führen oder aber diejenigen, die von einem «neuen Leben» träumen und dafür auch kämpfen. So eben auch John und Hen-ry, die sich – wenn auch aus ganz unter-schiedlichen Gründen – für das gemeinsa-me Schreiben eines medizinischen Buches über männliche Invertierte, also Gays, entschliessen. Dummerweise erscheint ihr Buch zu der Zeit, in der die Gesellschaft so-wieso wegen der «Verfehlungen» Oscar Wil-des sehr kritisch auf Homosexuelle guckt. Crewe schildert nun, wie es den bei-den Autoren mit den Anfeindungen geht und wie sie versuchen, ihren Moralvorstel-lungen Gehör zu verschaen. John, der ver-heiratet ist und drei erwachsene Töchter hat, inzwischen aber mit einem Schrift-setzer zusammenlebt, will alles öentlich machen, so sehr ist er von der Notwenigkeit der Gleichberechtigung überzeugt. Henry hingegen, verheiratet mit einer lesbischen Frau, die mit ihrer Geliebten zusammen-lebt, kann nicht dafür kämpfen. Nicht, weil er etwas gegen Homosexuelle hat, er ist ein-fach zu introvertiert. Das Schöne ist, dass die Leser*innen beide Entscheidungen nachvollziehen können, man verdammt keinen von beiden, im Gegenteil, man fühlt und leidet mit ihnen und ihrem Kampf ge-gen Windmühlen. Letztendlich merkt man, wie viel sich inzwischen in Bezug auf Anerkennung ge-tan hat, andererseits wird auch deutlich, dass wir in manchen Fragen gar nicht so weit vom Jahr 1895 entfernt sind. LEBEN NEUE DASE LEBEN ROMANDass man nicht darüber spricht und auch noch nicht wirklich Begriffe für gleichgeschlechtlich Liebende hat, ist die eine Sache. Viel schlimmer ist, dass man diese Form der Sexualität nicht nur nicht anerkennt und sogar leugnet, nein, die Betroffenen werden denunziert, verfolgt und (nicht zu knapp) bestraft. BuchtippJanuarEngland, 19. Jahrhundert: Eine Welt des Aufbruchs, könnte man meinen. Wären da nicht die immens starken konservativen Kräfte, die quasi Leben kosten.«Dieses Haus sollohne Makel bleiben»

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26 27CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024studiert und eine militärische Karriere ein-geschlagen. Morphium- und opiumabhän-gig, in Unordnung mit sich selbst erschoss er sich am 27. Dezember 1906. Katastrophe einer nie vollzogenen EheTschaikowsky selbst fühlte zeit seines Le-bens die Spannung zwischen seinem Eros und dem Wunsch, ein den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechendes Da-sein zu führen. In Russland war Homosexu-alität damals wie heute gebrandmarkt. Tschaikowskys sexuelle Ausrichtung be-deutete für ihn ein Aussenseiterdasein, er, der künstlerisch anerkannt war. Dieser Zwiespalt machte ihm zu schaen.Züge von sich selber hat Tschaikowsky in die Figur des zwar heterosexuell konzi-pierten, den gesellschaftlichen Konventio-nen aber dennoch nicht entsprechenden Eugen Onegin in seiner gleichnamigen Oper gelegt. Onegin gibt der ihn liebenden Tatjana eine Absage, weil er sich als untaug-lich für die Ehe betrachtet. Tschaikowsky stürzte sich, ganz im Unterschied zu seinem Titelhelden, in eine Ehe, die allerdings nie vollzogen wurde und Wochen später schon in einer Trennung mündete, weil er eben nicht geeignet für eine Verbindung mit ei-ner Frau war. Auf Bob blieb er nicht xiert; Tschai-kowsky holte sich abenteuerliche und ab-wechslungsreiche Freuden in der Gegenwelt seines Eros und genoss sie ohne Weiteres. Eine romantische Liebesbeziehung unter-hielt der Verfasser der drei weltberühmten Ballette «Schwanensee», «Dorn röschen» und «Der Nussknacker» auch mit seinem ehemaligen Schüler am Moskauer Konser-vatorium, dem Violinisten Iosif Kotek. Ein Russisches Roulette?Welch ein Leben, das am 7. Mai 1840 in Wotkinsk seinen Anfang genommen hatte. Es passt irgendwie zu dieser Biographie, dass sich um Tschaikowskys plötzliches Ende am 6. November 1893 in St. Peters-burg wilde Spekulationen rankten. War es ein Fememord oder ein versteckter Freitod? Vergiftete er sich mit Arsen auf Anweisung eines «Ehrengerichts», das ihn wegen sei-ner Homosexualität zum Tode verurteilt hatte? Oder trank er in der Stadt, in der die Cholera grassierte, nicht abgekochtes Was-ser? Und wenn ja, trank er es fahrlässig oder weil er von allem genug hatte, mit dem be-wusst eingegangenen Risiko, sich anzuste-cken und zu sterben? Wollte er den Ent-scheid über sein Schicksal Gott überlassen? Fast möchte man sagen, Peter Iljitsch Tschaikowsky hätte auch eine Oper mit dem Titel «Russisches Roulette» komponie-ren können. SERIEHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURHOMOSEXUALITÄT IN GESCHICHTE UND LITERATURMehr oder weniger versteckt findet sich das Thema Männerliebe in der Weltgeschichte, der Politik, in antiken Sagen und traditionellen Mär-chen – aber auch in Wissenschaft, Technik, Computerwelt. Cruiser greift einzelne Beispiele heraus, würzt sie mit etwas Fantasie, stellt sie in zeitgenössische Zusammenhänge und wünscht bei der Lektüre viel Spass – und hie und da auch neue oder zumindest aufgefrischte Erkenntnisse. In dieser Folge: ein russischer Komponist, der an seiner Veranlagung litt.Sachen Liebe, etwa in Bezug auf einen Studien kollegen und Altersgenossen. Aber Tschaikowsky sah oenbar ein, dass es Männer gab, die Bob näherstanden als er selbst. Doch sie trafen sich immer wieder, unternahmen Reisen zusammen, schrieben einander Briefe, in denen der eine dem an-deren sein Innerstes oenbarte. Bob überlebte den Onkel und Freund um 13 Jahre. Der Komponist musste die langsame Zerstörung des jungen Mannes nicht mehr mitansehen. Bob, am 14. De-zember 1871 geboren, hatte Jurisprudenz Der Komponist Peter Tschaikowski. Gravur durch Demchinsky. Veröffentlicht in der Zeitschrift «Niva», Verlag A.F. Marx, St. Petersburg, Russland, 1893Bild © PDCRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURBUCHTIPPDer Musiker war selig, wenn er mit seinem Neffen Bob zusammen war.BUCHTIPPTom Crewe: Das Neue Leben. Insel Verlag 2023.Preis CHF 34.90 ISBN 978-3-458-64387-6VON BIRGIT KAWOHLDas neue Jahr beginnen wir direkt mit einem Lese-Knüller, der den Nach-Weihnachts-Blues und die immer noch dunkle Jahreszeit subito vergessen lässt, weil man schnell alles um einen her-um vergisst, so nimmt einen die Geschichte von John und Henry gefangen, die der 1989 in Middlesbrough geborene Historiker Tom Crewe mit Sach- und Sprachverstand er-zählt.Die Geschichte beginnt im Jahr 1894, als sich zwei Männer schreiben und be-schliessen, ein Buch über Homosexualität zu schreiben. Ein Wort, das übrigens in dem Roman kaum vorkommt, weil es da-mals eben noch nicht üblich war, von Ho-mosexualität zu sprechen, wenn man über-haupt über Sexualität sprach. Stattdessen ndet man Bezeichnungen wie «Invertier-te» oder «warme Brüder». Dass man nicht darüber spricht und auch noch nicht wirk-lich Begrie für gleichgeschlechtlich Lie-bende hat, ist die eine Sache. Viel schlim-mer ist, dass man diese Form der Sexualität nicht nur nicht anerkennt und sogar leug-net, nein, die Betroenen werden denun-ziert, verfolgt und (nicht zu knapp) bestraft. U. a. mit jahrelangen Zuchthausstrafen, wie es zum Beispiel Oscar Wilde erging, der 1895 wegen «Unzucht» zu zwei Jahren Zuchthaus mit harter Zwangsarbeit verur-teilt wurde. Trotzdem gibt es zu dieser Zeit natür-lich Homosexuelle, die sich entweder ver-biegen und ein bürgerlich-angesehenes Le-ben führen oder aber diejenigen, die von einem «neuen Leben» träumen und dafür auch kämpfen. So eben auch John und Hen-ry, die sich – wenn auch aus ganz unter-schiedlichen Gründen – für das gemeinsa-me Schreiben eines medizinischen Buches über männliche Invertierte, also Gays, entschliessen. Dummerweise erscheint ihr Buch zu der Zeit, in der die Gesellschaft so-wieso wegen der «Verfehlungen» Oscar Wil-des sehr kritisch auf Homosexuelle guckt. Crewe schildert nun, wie es den bei-den Autoren mit den Anfeindungen geht und wie sie versuchen, ihren Moralvorstel-lungen Gehör zu verschaen. John, der ver-heiratet ist und drei erwachsene Töchter hat, inzwischen aber mit einem Schrift-setzer zusammenlebt, will alles öentlich machen, so sehr ist er von der Notwenigkeit der Gleichberechtigung überzeugt. Henry hingegen, verheiratet mit einer lesbischen Frau, die mit ihrer Geliebten zusammen-lebt, kann nicht dafür kämpfen. Nicht, weil er etwas gegen Homosexuelle hat, er ist ein-fach zu introvertiert. Das Schöne ist, dass die Leser*innen beide Entscheidungen nachvollziehen können, man verdammt keinen von beiden, im Gegenteil, man fühlt und leidet mit ihnen und ihrem Kampf ge-gen Windmühlen. Letztendlich merkt man, wie viel sich inzwischen in Bezug auf Anerkennung ge-tan hat, andererseits wird auch deutlich, dass wir in manchen Fragen gar nicht so weit vom Jahr 1895 entfernt sind. LEBEN NEUE DASE LEBEN ROMANDass man nicht darüber spricht und auch noch nicht wirklich Begriffe für gleichgeschlechtlich Liebende hat, ist die eine Sache. Viel schlimmer ist, dass man diese Form der Sexualität nicht nur nicht anerkennt und sogar leugnet, nein, die Betroffenen werden denunziert, verfolgt und (nicht zu knapp) bestraft. BuchtippJanuarEngland, 19. Jahrhundert: Eine Welt des Aufbruchs, könnte man meinen. Wären da nicht die immens starken konservativen Kräfte, die quasi Leben kosten.«Dieses Haus sollohne Makel bleiben»

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28 29CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURKINOTIPPKULTURKINOTIPPFilmstills © ZVG / Portrait Hirokazu Koreeda © Tamotsu FujiiANZEIGESchreinerstrasse 44 | 8004 Zürich | Telefon 044 291 39 90 | www.haargenau.chDeine fabelhafte LGBT*-friendly Hairstylistin freut sich auf deinen Besuch.Der kleine Minato beginnt, sich merkwürdig zu verhalten. Seine Mutter spürt, dass etwas nicht stimmt. Eine Lehrkraft scheint dafür verantwortlich zu sein …Die Unschuld – oder doch eher «Monster»?VON HAYMO EMPL Ein Film aus Japan mit einem queeren ema? Japan, welches sich nach wie vor äusserst schwertut mit Homose-xualität. Geht das? Nun. Wenn das ema sensibel angegangen wird, scheint es zu funktionieren. Der Film «Monster» (oder auch je nach Verleiher «Die Unschuld») han-delt von einem Vorfall an einer kleinen Schu-le in der hintersten Ecke Japans. Die Kinder stehen dabei im Zentrum, doch ein schein-bar unbedeutendes Ereignis reisst einen riesigen Graben zwischen die Menschen der Region. Während die Geschichte aus Sicht der Mutter, der Lehrkraft und des Kindes er-zählt wird, kommt allmählich die Wahrheit ans Licht. Wir wollen hier noch nicht alles verraten, nur so viel: Es geht um eine «verbo-tene» Liebe. Der Film lebt von vielen gelun-genen Story-Twists, von viel Drama und her-ausragenden Darsteller*innen.Regisseur Hirokazu Koreeda sagt in einem Interview: «Für diesen Film habe ich zum ersten Mal mit Sakamoto Yuji zusam-mengearbeitet. Er ist ein sehr aktiver Dreh-buchautor, vor dem ich den grössten Res-pekt habe. Obwohl ich etwas älter bin als er, teilen wir ähnliche Erfahrungen, was uns stark verbindet. In unseren Arbeiten grei-fen wir vergleichbare emen wie Vernach-lässigung, Straftäter und Patchwork-Fami-lien auf, weshalb es Resonanzen in unseren Werken gibt, als ob wir dieselbe Luft einat-men, aber jeweils eine andere ausatmen würden.»Die Weltpremiere von Monster fand am 17. Mai 2023 auf den 76. Filmfestspielen von Cannes statt, wo der Film um die Golde-ne Palme konkurrierte und mit der Queer-Palme sowie dem Preis für das beste Dreh-buch ausgezeichnet wurde. «Monster» (dt. Titel «Die Unschuld»): Kinostart ist am 24. Januar in der Deutsch-schweiz; im Tessin ab 22. Februar.Regisseur Hirokazu Koreeda wagte sich mit «Monster» an ein in Japan immer noch schwieriges Thema: Homosexualität.So düster dieses Bild – so düster das Leben des jungen Minato, der nicht so ist, wie ihn die japanische Gesellschaft gerne hätte.Ein Film aus Japan mit einem queeren Thema? Nun. Wenn das Thema sensibel angegangen wird, scheint es zu funktionieren.

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28 29CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024KULTURKINOTIPPKULTURKINOTIPPFilmstills © ZVG / Portrait Hirokazu Koreeda © Tamotsu FujiiANZEIGESchreinerstrasse 44 | 8004 Zürich | Telefon 044 291 39 90 | www.haargenau.chDeine fabelhafte LGBT*-friendly Hairstylistin freut sich auf deinen Besuch.Der kleine Minato beginnt, sich merkwürdig zu verhalten. Seine Mutter spürt, dass etwas nicht stimmt. Eine Lehrkraft scheint dafür verantwortlich zu sein …Die Unschuld – oder doch eher «Monster»?VON HAYMO EMPL Ein Film aus Japan mit einem queeren ema? Japan, welches sich nach wie vor äusserst schwertut mit Homose-xualität. Geht das? Nun. Wenn das ema sensibel angegangen wird, scheint es zu funktionieren. Der Film «Monster» (oder auch je nach Verleiher «Die Unschuld») han-delt von einem Vorfall an einer kleinen Schu-le in der hintersten Ecke Japans. Die Kinder stehen dabei im Zentrum, doch ein schein-bar unbedeutendes Ereignis reisst einen riesigen Graben zwischen die Menschen der Region. Während die Geschichte aus Sicht der Mutter, der Lehrkraft und des Kindes er-zählt wird, kommt allmählich die Wahrheit ans Licht. Wir wollen hier noch nicht alles verraten, nur so viel: Es geht um eine «verbo-tene» Liebe. Der Film lebt von vielen gelun-genen Story-Twists, von viel Drama und her-ausragenden Darsteller*innen.Regisseur Hirokazu Koreeda sagt in einem Interview: «Für diesen Film habe ich zum ersten Mal mit Sakamoto Yuji zusam-mengearbeitet. Er ist ein sehr aktiver Dreh-buchautor, vor dem ich den grössten Res-pekt habe. Obwohl ich etwas älter bin als er, teilen wir ähnliche Erfahrungen, was uns stark verbindet. In unseren Arbeiten grei-fen wir vergleichbare emen wie Vernach-lässigung, Straftäter und Patchwork-Fami-lien auf, weshalb es Resonanzen in unseren Werken gibt, als ob wir dieselbe Luft einat-men, aber jeweils eine andere ausatmen würden.»Die Weltpremiere von Monster fand am 17. Mai 2023 auf den 76. Filmfestspielen von Cannes statt, wo der Film um die Golde-ne Palme konkurrierte und mit der Queer-Palme sowie dem Preis für das beste Dreh-buch ausgezeichnet wurde. «Monster» (dt. Titel «Die Unschuld»): Kinostart ist am 24. Januar in der Deutsch-schweiz; im Tessin ab 22. Februar.Regisseur Hirokazu Koreeda wagte sich mit «Monster» an ein in Japan immer noch schwieriges Thema: Homosexualität.So düster dieses Bild – so düster das Leben des jungen Minato, der nicht so ist, wie ihn die japanische Gesellschaft gerne hätte.Ein Film aus Japan mit einem queeren Thema? Nun. Wenn das Thema sensibel angegangen wird, scheint es zu funktionieren.

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30 31CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024GESELLSCHAFTSICHERE RÄUME FÜR SCHWULEGESELLSCHAFTSICHERE RÄUME FÜR SCHWULEDie Schwulenbewegung gibt es mittlerweile seit Jahrzehnten und dich ist das Ziel, dass es allen Schwulen gutgehen soll, immer noch nicht erreicht.Für viele Schwule war und ist das Leben gefährlich – und das nicht nur im Hinblick auf ihre Gesundheit.VON PETER THOMMEN Ich konsumiere Drogen gegen Bluthoch-druck und Diabetes. Aber es geht mir gut. Während der vergangenen 50 Jahre bewegte ich mich in der sogenannten Szene und bekam immer wieder mit, wie es die-sem und jenem schlecht ergangen ist. Dage-gen haben sie Drogen konsumiert. Es ng in den 80er-Jahren mit den «Bollen» an. Der ältere «Bollen-Edy» hat diese an jüngere Männer verteilt, um zu Sex zu kommen. Bei einem davon ist ihm das dann zum tödli-chen Verhängnis geworden. Ein Bekannter, hatte mir damals vorgeschwärmt, wie nach dem Konsum dieser Droge sich die Mög-lichkeit aufgetan habe, «völlig wortlos zu kommunizieren».Später kam die Aids-Krise und die da-gegen entwickelten Drogen gegen die Im-munschwäche. Viren können sich unter Schwulen besonders schnell ausbreiten, weil sie so reisefreudig sind. Beide. Als ich in den 70er-Jahren bei einem älteren Arzt eine Untersuchung machen liess, fragte der mich noch, ob ich denn in Paris gewesen sei? Nun, seit einiger Zeit kommt Paris zu uns. Schwule sind freudig aufgeschlossen ge-genüber sexuell attraktiven Zureisenden. Die Polizei vermeldet aktuell wieder Über-grie auf Männer, die sich übers Internet mit Unbekannten getroen haben und mit Drogen zur Gegenwehr unfähig gemacht und ausgeraubt wurden. Wer erinnert sich noch an die KO-Tropfen – vor Jahrzehnten? Wir verlieren immer wieder «sichere Räu-me», in denen wir uns gehenlassen können. Bars, Saunas und den Tuntenball. Dieser wurde 2015 aufgegeben, weil zu viele Hetero*as ihn überlaufen haben und Les-ben angebaggert worden sind.Bis heute bildet der Drogenkonsum of-fenbar für viele junge Boys und ältere Män-ner einen angeblich sicheren Raum, in wel-chen sie sich begeben, wenn sie vom Leben als Schwuler überfordert sind. Oder sie kon-sumieren, um im Sex loszulassen. «Als Schwule haben wir uns immer gesagt, dass es uns gut gehen wird, wenn die AIDS-Epi-demie vorbei ist. Dann war es so: wenn wir heiraten können, wird es uns gut gehen. Jetzt ist es so, wenn das Mobbing aufhört, wird es uns gut gehen. Wir warten immer wieder auf den Moment, in dem wir das Ge-fühl haben, nicht anders zu sein als andere Menschen. Aber Tatsache ist, dass wir an-ders sind. Es ist an der Zeit, dass wir das ak-zeptieren und damit arbeiten.» (Michael Hobbes)Die Schwulenbewegung in der Deutschschweiz bildete in ihren Anfängen Selbsterfahrungsgruppen, um gemeinsam die individuellen psychischen Abläufe ei-nes schwulen Lebens zu ergründen. In den USA hatten viele Schwule – wie ich in Roma-nen gelesen habe – einen Psychiater. Doch es gibt heute Fachkräftemangel und den Glauben, durchs Heiraten würden alle diese Probleme schon gelöst. «Mitneen*!»Als sich die Schwulen in grösserer An-zahl in Zürich trafen und die Partyszene in Basel zerel, merkte ich, dass in dieser «weltsüchtigen» Stadt auch die Drogen ein wichtiger Anziehungspunkt geworden sind. Junge Schwule glauben immer wieder, dass alles, was neu angeboten wird, auch gut für ihr Leben sei. Und mit Drogen ginge alles viel schneller. Ihre eigene Sexualität be-ginnt allgemein erst mit ihrem «Auftritt». Vorher war nichts? So sehen sie sich denn zuerst als Opfer auf dem Altar der Gesell-schaft und einer Szene, worauf sie ihre Bio-graphie bauen. So ist jedenfalls mein Ein-druck. Sichere Räume mit realer Kom mu - nikation verschwinden zusehends. Nicht je-der Mann, der mit einem anderen Mann Sex haben möchte, will auch mit ihm kommu-nizieren, weil es da viele mehr gibt, die nur gelegentlich daran teilhaben möchten, um dann in ihr Familienleben zurückzutau-chen. Wohin können Schwule zurückgehen, wo fühlen sie sich geborgen und wo nden sie Wärme? Ich habe mir kürzlich in der Sauna eine Massage bei einem sympathi-schen Latino gebucht. Ich kenne seinen Na-men nicht, aber ich konnte mich sicher füh-len. Keine Drogen, aber zwei Kerzen – für die Stimmung. Keine Suche im unbekann-ten Raum Internet. Keine «wilden Gefah-ren» für die Aufregung im Sex.Ich erinnere mich an die Szene «in ei-nem Spunten» in der Telearena SRF 1978. Ein safer space, über den sich Zuschauer* in - nen wegen des Klischees aufgeregt hatten. Aber Schwule konnten hier Männer treen, die zumindest dem Personal bekannt wa-ren. Es ging auch um Getränke, die ein Sex-arbeiter hatte anschreiben lassen, bis er wieder Einnahmen hatte. Oft dienten sie der wortlosen Kontaktaufnahme.Wir sind heute in einer Bubble ange-kommen, in der viele Gefahren per Gesetz verboten worden sind, neuestens die Kon-versionstherapie. Gleiche Rechte haben wir jetzt. Aber Verständigung auf Augenhöhe und schwul leben ohne Konsum irgendwel-cher Drogen, ist für viele immer noch nicht möglich. Wann wird es uns gut gehen? Dann wird es uns gut gehenWir verlieren immer wieder «sichere Räume», in denen wir uns gehenlassen können. Bars, Saunas und den Tuntenball.«Wir warten immer wieder auf den Moment, in dem wir das Ge-fühl haben, nicht anders zu sein als andere Menschen. Aber Tat-sache ist, dass wir anders sind. Es ist an der Zeit, dass wir das akzeptieren und damit arbeiten.» Michael HobbesDer Drogenkonsum ist unter Gays hoch, und das nicht nur, um vor und bei einem Date in Stimmung zu kommen.PETER THOMMENPeter Thommen (71) ist Licht-, Gallions- und Reizfigur aus Basel und schreibt in unregelmäs-sigen Abständen für den Cruiser seit dessen Gründung 1986. Er betrieb über 40 Jahre lang den schwulen Buchladen «Arcados» und be-treibt eines der grössten Online-Archive über die Schwulenszene der Schweiz. www.arcados.ch

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30 31CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024GESELLSCHAFTSICHERE RÄUME FÜR SCHWULEGESELLSCHAFTSICHERE RÄUME FÜR SCHWULEDie Schwulenbewegung gibt es mittlerweile seit Jahrzehnten und dich ist das Ziel, dass es allen Schwulen gutgehen soll, immer noch nicht erreicht.Für viele Schwule war und ist das Leben gefährlich – und das nicht nur im Hinblick auf ihre Gesundheit.VON PETER THOMMEN Ich konsumiere Drogen gegen Bluthoch-druck und Diabetes. Aber es geht mir gut. Während der vergangenen 50 Jahre bewegte ich mich in der sogenannten Szene und bekam immer wieder mit, wie es die-sem und jenem schlecht ergangen ist. Dage-gen haben sie Drogen konsumiert. Es ng in den 80er-Jahren mit den «Bollen» an. Der ältere «Bollen-Edy» hat diese an jüngere Männer verteilt, um zu Sex zu kommen. Bei einem davon ist ihm das dann zum tödli-chen Verhängnis geworden. Ein Bekannter, hatte mir damals vorgeschwärmt, wie nach dem Konsum dieser Droge sich die Mög-lichkeit aufgetan habe, «völlig wortlos zu kommunizieren».Später kam die Aids-Krise und die da-gegen entwickelten Drogen gegen die Im-munschwäche. Viren können sich unter Schwulen besonders schnell ausbreiten, weil sie so reisefreudig sind. Beide. Als ich in den 70er-Jahren bei einem älteren Arzt eine Untersuchung machen liess, fragte der mich noch, ob ich denn in Paris gewesen sei? Nun, seit einiger Zeit kommt Paris zu uns. Schwule sind freudig aufgeschlossen ge-genüber sexuell attraktiven Zureisenden. Die Polizei vermeldet aktuell wieder Über-grie auf Männer, die sich übers Internet mit Unbekannten getroen haben und mit Drogen zur Gegenwehr unfähig gemacht und ausgeraubt wurden. Wer erinnert sich noch an die KO-Tropfen – vor Jahrzehnten? Wir verlieren immer wieder «sichere Räu-me», in denen wir uns gehenlassen können. Bars, Saunas und den Tuntenball. Dieser wurde 2015 aufgegeben, weil zu viele Hetero*as ihn überlaufen haben und Les-ben angebaggert worden sind.Bis heute bildet der Drogenkonsum of-fenbar für viele junge Boys und ältere Män-ner einen angeblich sicheren Raum, in wel-chen sie sich begeben, wenn sie vom Leben als Schwuler überfordert sind. Oder sie kon-sumieren, um im Sex loszulassen. «Als Schwule haben wir uns immer gesagt, dass es uns gut gehen wird, wenn die AIDS-Epi-demie vorbei ist. Dann war es so: wenn wir heiraten können, wird es uns gut gehen. Jetzt ist es so, wenn das Mobbing aufhört, wird es uns gut gehen. Wir warten immer wieder auf den Moment, in dem wir das Ge-fühl haben, nicht anders zu sein als andere Menschen. Aber Tatsache ist, dass wir an-ders sind. Es ist an der Zeit, dass wir das ak-zeptieren und damit arbeiten.» (Michael Hobbes)Die Schwulenbewegung in der Deutschschweiz bildete in ihren Anfängen Selbsterfahrungsgruppen, um gemeinsam die individuellen psychischen Abläufe ei-nes schwulen Lebens zu ergründen. In den USA hatten viele Schwule – wie ich in Roma-nen gelesen habe – einen Psychiater. Doch es gibt heute Fachkräftemangel und den Glauben, durchs Heiraten würden alle diese Probleme schon gelöst. «Mitneen*!»Als sich die Schwulen in grösserer An-zahl in Zürich trafen und die Partyszene in Basel zerel, merkte ich, dass in dieser «weltsüchtigen» Stadt auch die Drogen ein wichtiger Anziehungspunkt geworden sind. Junge Schwule glauben immer wieder, dass alles, was neu angeboten wird, auch gut für ihr Leben sei. Und mit Drogen ginge alles viel schneller. Ihre eigene Sexualität be-ginnt allgemein erst mit ihrem «Auftritt». Vorher war nichts? So sehen sie sich denn zuerst als Opfer auf dem Altar der Gesell-schaft und einer Szene, worauf sie ihre Bio-graphie bauen. So ist jedenfalls mein Ein-druck. Sichere Räume mit realer Kom mu - nikation verschwinden zusehends. Nicht je-der Mann, der mit einem anderen Mann Sex haben möchte, will auch mit ihm kommu-nizieren, weil es da viele mehr gibt, die nur gelegentlich daran teilhaben möchten, um dann in ihr Familienleben zurückzutau-chen. Wohin können Schwule zurückgehen, wo fühlen sie sich geborgen und wo nden sie Wärme? Ich habe mir kürzlich in der Sauna eine Massage bei einem sympathi-schen Latino gebucht. Ich kenne seinen Na-men nicht, aber ich konnte mich sicher füh-len. Keine Drogen, aber zwei Kerzen – für die Stimmung. Keine Suche im unbekann-ten Raum Internet. Keine «wilden Gefah-ren» für die Aufregung im Sex.Ich erinnere mich an die Szene «in ei-nem Spunten» in der Telearena SRF 1978. Ein safer space, über den sich Zuschauer* in - nen wegen des Klischees aufgeregt hatten. Aber Schwule konnten hier Männer treen, die zumindest dem Personal bekannt wa-ren. Es ging auch um Getränke, die ein Sex-arbeiter hatte anschreiben lassen, bis er wieder Einnahmen hatte. Oft dienten sie der wortlosen Kontaktaufnahme.Wir sind heute in einer Bubble ange-kommen, in der viele Gefahren per Gesetz verboten worden sind, neuestens die Kon-versionstherapie. Gleiche Rechte haben wir jetzt. Aber Verständigung auf Augenhöhe und schwul leben ohne Konsum irgendwel-cher Drogen, ist für viele immer noch nicht möglich. Wann wird es uns gut gehen? Dann wird es uns gut gehenWir verlieren immer wieder «sichere Räume», in denen wir uns gehenlassen können. Bars, Saunas und den Tuntenball.«Wir warten immer wieder auf den Moment, in dem wir das Ge-fühl haben, nicht anders zu sein als andere Menschen. Aber Tat-sache ist, dass wir anders sind. Es ist an der Zeit, dass wir das akzeptieren und damit arbeiten.» Michael HobbesDer Drogenkonsum ist unter Gays hoch, und das nicht nur, um vor und bei einem Date in Stimmung zu kommen.PETER THOMMENPeter Thommen (71) ist Licht-, Gallions- und Reizfigur aus Basel und schreibt in unregelmäs-sigen Abständen für den Cruiser seit dessen Gründung 1986. Er betrieb über 40 Jahre lang den schwulen Buchladen «Arcados» und be-treibt eines der grössten Online-Archive über die Schwulenszene der Schweiz. www.arcados.ch

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32 33CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024 Wir brauchen jetzt deine Unterstützung!1. Twint-App önen2. QR-Code scannen3. Adresse angeben4. CHF 100.– sendenFertig2022 Du bist Mitglied bei schwulengeschichte.ch Die Website schwu len ge schich te.ch macht die Ge schich te von Schwulen in der Schweiz in all ihren Facetten zu gäng lich. Betrieb und Wei ter ent wick lung wird von eh ren amt li chen Mit ar bei tern si cher ge stellt.WERDE MITGLIED UND HILF, DASS UNSERE GESCHICHTE NICHT VERGESSEN WIRD 1930 1940 1950 1960 1970 19801990 2000 2010 20201943 Der Kreis1957 Kreis-Ball1973 Gay-Liberation1986 AIDS2004 Partnerschafts-gesetz DemoKULTURBUCHTIPPBUCHTIPPArttu Tuominen: Was wir verbergen. Lübbe Verlag 2023.Preis CHF 25.90 ISBN 978-3-404-19216-8VON BIRGIT KAWOHLGerade noch haben wir in unserer Cruiser-Weihnachtsausgabe einen Bericht über die Toleranz der Regen-bogenkirche veröentlicht, eine Gemein-schaft, die das Wort Gottes in Bezug auf Nächstenliebe und Toleranz sehr wörtlich nimmt und damit wirklich zu einer Kirche für alle wird.Dass es aber auch ganz anders sein kann – und leider oftmals auch ganz anders ist – stellt der Finne Arttu Tuominen, der neben seinem Schreiben als Ingenieur für Umwelttechnik arbeitet, in seinem jüngs-ten auf Deutsch erschienenen Kriminalro-man dar. Worum geht es? Die südwestnnische Stadt wird von einem üblen Anschlag er-schüttert: Jemand wirft eine Splittergrana-te in einem vollen Nachtclub, der vor allem von Queers besucht wird. Bald darauf taucht im Internet ein Bekennervideo auf, das die Polizei – und nicht nur die – er-schauern lässt, denn der Täter präsentiert sich zum einen voll mit Hass auf Homose-xuelle, zum anderen aber auch mit weiteren Waen, die oensichtlich aus Armeebe-ständen stammen.Für Henrik Oksman beginnt eine heikle Mission, denn er selbst war kurz vor dem Anschlag in besagtem Nachtclub, besonderes Schmankerl dabei: Er trug Frauenkleider. Nicht nur, dass er von Glück reden kann, den Club frühzeitig verlassen zu haben, andererseits steckt er in einem fürchterlichen Dilemma, denn bisher weiss niemand im Kommissariat von seiner sexu-ellen Vorliebe und das soll um Himmels Willen auch so bleiben. Zudem kommt er, ebenso wie der Attentäter, aus einer streng religiösen Familie, weswegen ein Outing für ihn keinesfalls vorstellbar ist.Was Tuominens Roman zu einem pa-ckenden Bild der heutigen Gesellschaft macht, ganz im Sinne und Stil des mittler-weile als Klassiker geltenden schwedischen Autorenpaares Sjöwall / Wahlöö, das mit als Erstes das Krimigenre für eine (linkspo-litische) Gesellschaftskritik nutzte, ist die Verbindung des Blickes auf verschiedene Gesellschaftsgruppen, die sich gegenseitig in ihrem Hass und ihrer Intoleranz ansta-cheln und unterstützen. Denn nicht nur der sich selbst als «Gesandter» bezeichnende Attentäter quillt über vor Hass auf alles, was nicht der heteronormativen Denkweise entspricht. Schnell springen rechtsradikale Gruppierungen auf diesen Kreuzzug auf und können damit eine Vielzahl sich selbst sicherlich als «unbescholtene Bürger» be-zeichnende Menschen mitreissen. Mit der Zeit wird diese Auseinander-setzung zwischen «aufgeklärten» und kon-servativen Gruppen zum Kernthema des Romans, die Aufklärung des Verbrechens gerät etwas in den Hintergrund, was hier absolut als Lob verstanden werden will, denn das zeichnet einen gelungenen Kri-minalroman aus: Dass die Leser*innen im ema verhaftet sind und nicht zwanghaft nach irgendwelchen Täter*innen suchen. Auch wenn diese Suche hier nicht zu kurz kommt, ist man letztendlich mehr ge-spannt, ob es Oksman am Ende gelingt, zu seinem wahren Ich zu stehen und wie sein Vater damit umgehen würde, als dass man den Namen des Attentäters kennen will. Ein Kommissar, der Frauenkleider trägt, eine Handgranate in einem Schwulen-club – das klingt nach einer brisanten Mischung. Und ja, Spannung ist garantiert.Ein Gesandterauf AbwegenBuchtippFebruarWas Tuominens Roman zu einem packenden Bild der heutigen Gesellschaft macht, ist die Ver-bindung des Blickes auf ver-schiedene Gesellschaftsgruppen, die sich gegenseitig in ihrem Hass und ihrer Intoleranz ansta-cheln und unterstützen.

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32 33CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024 Wir brauchen jetzt deine Unterstützung!1. Twint-App önen2. QR-Code scannen3. Adresse angeben4. CHF 100.– sendenFertig2022 Du bist Mitglied bei schwulengeschichte.ch Die Website schwu len ge schich te.ch macht die Ge schich te von Schwulen in der Schweiz in all ihren Facetten zu gäng lich. Betrieb und Wei ter ent wick lung wird von eh ren amt li chen Mit ar bei tern si cher ge stellt.WERDE MITGLIED UND HILF, DASS UNSERE GESCHICHTE NICHT VERGESSEN WIRD 1930 1940 1950 1960 1970 19801990 2000 2010 20201943 Der Kreis1957 Kreis-Ball1973 Gay-Liberation1986 AIDS2004 Partnerschafts-gesetz DemoKULTURBUCHTIPPBUCHTIPPArttu Tuominen: Was wir verbergen. Lübbe Verlag 2023.Preis CHF 25.90 ISBN 978-3-404-19216-8VON BIRGIT KAWOHLGerade noch haben wir in unserer Cruiser-Weihnachtsausgabe einen Bericht über die Toleranz der Regen-bogenkirche veröentlicht, eine Gemein-schaft, die das Wort Gottes in Bezug auf Nächstenliebe und Toleranz sehr wörtlich nimmt und damit wirklich zu einer Kirche für alle wird.Dass es aber auch ganz anders sein kann – und leider oftmals auch ganz anders ist – stellt der Finne Arttu Tuominen, der neben seinem Schreiben als Ingenieur für Umwelttechnik arbeitet, in seinem jüngs-ten auf Deutsch erschienenen Kriminalro-man dar. Worum geht es? Die südwestnnische Stadt wird von einem üblen Anschlag er-schüttert: Jemand wirft eine Splittergrana-te in einem vollen Nachtclub, der vor allem von Queers besucht wird. Bald darauf taucht im Internet ein Bekennervideo auf, das die Polizei – und nicht nur die – er-schauern lässt, denn der Täter präsentiert sich zum einen voll mit Hass auf Homose-xuelle, zum anderen aber auch mit weiteren Waen, die oensichtlich aus Armeebe-ständen stammen.Für Henrik Oksman beginnt eine heikle Mission, denn er selbst war kurz vor dem Anschlag in besagtem Nachtclub, besonderes Schmankerl dabei: Er trug Frauenkleider. Nicht nur, dass er von Glück reden kann, den Club frühzeitig verlassen zu haben, andererseits steckt er in einem fürchterlichen Dilemma, denn bisher weiss niemand im Kommissariat von seiner sexu-ellen Vorliebe und das soll um Himmels Willen auch so bleiben. Zudem kommt er, ebenso wie der Attentäter, aus einer streng religiösen Familie, weswegen ein Outing für ihn keinesfalls vorstellbar ist.Was Tuominens Roman zu einem pa-ckenden Bild der heutigen Gesellschaft macht, ganz im Sinne und Stil des mittler-weile als Klassiker geltenden schwedischen Autorenpaares Sjöwall / Wahlöö, das mit als Erstes das Krimigenre für eine (linkspo-litische) Gesellschaftskritik nutzte, ist die Verbindung des Blickes auf verschiedene Gesellschaftsgruppen, die sich gegenseitig in ihrem Hass und ihrer Intoleranz ansta-cheln und unterstützen. Denn nicht nur der sich selbst als «Gesandter» bezeichnende Attentäter quillt über vor Hass auf alles, was nicht der heteronormativen Denkweise entspricht. Schnell springen rechtsradikale Gruppierungen auf diesen Kreuzzug auf und können damit eine Vielzahl sich selbst sicherlich als «unbescholtene Bürger» be-zeichnende Menschen mitreissen. Mit der Zeit wird diese Auseinander-setzung zwischen «aufgeklärten» und kon-servativen Gruppen zum Kernthema des Romans, die Aufklärung des Verbrechens gerät etwas in den Hintergrund, was hier absolut als Lob verstanden werden will, denn das zeichnet einen gelungenen Kri-minalroman aus: Dass die Leser*innen im ema verhaftet sind und nicht zwanghaft nach irgendwelchen Täter*innen suchen. Auch wenn diese Suche hier nicht zu kurz kommt, ist man letztendlich mehr ge-spannt, ob es Oksman am Ende gelingt, zu seinem wahren Ich zu stehen und wie sein Vater damit umgehen würde, als dass man den Namen des Attentäters kennen will. Ein Kommissar, der Frauenkleider trägt, eine Handgranate in einem Schwulen-club – das klingt nach einer brisanten Mischung. Und ja, Spannung ist garantiert.Ein Gesandterauf AbwegenBuchtippFebruarWas Tuominens Roman zu einem packenden Bild der heutigen Gesellschaft macht, ist die Ver-bindung des Blickes auf ver-schiedene Gesellschaftsgruppen, die sich gegenseitig in ihrem Hass und ihrer Intoleranz ansta-cheln und unterstützen.

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34 35CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024RATGEBERDR. GAYMein Partner hat mir gestern gestanden, dass er sich von unbekannten Männern hat blasen lassen. Das kam völlig unerwartet, weil wir eigentlich eine monogame Beziehung haben. Er beteuert, dass das niemals wieder vorkommt, da ich sein absoluter Traummann sei. Wie kann ich mit dieser Situation umgehen? Joël (35)Ich bin 60 Jahre alt und gegen Hepatitis A und B geimpft. Da ich regelmässig zu Sexarbeitern gehe, möchte ich wissen, ob eine HPV-Impfung in meinem Alter noch ein Thema ist? Hans-Jürg (60)Hallo JoëlEine Situation wie du sie erlebt hast, kennen viele. Wenn Vertrauen missbraucht wird, ist es schwierig, dieses wieder aufzubauen. Aber es ist möglich. Als Erstes solltest du dich fragen, was du willst. Willst du der Beziehung nochmals eine Chance geben? Kannst du deinem Partner wieder ver-trauen? Lohnt es sich? Falls ja – und das lese ich aus deiner Frage heraus – könnt ihr ge-meinsam Regeln festlegen, an die sich beide zukünftig halten. Was sind deine Wünsche und Ansprüche an die Beziehung? Was seine? Gibt es vielleicht Möglichkeiten, euer Sexleben spannender zu gestalten? Wollt ihr Monogamie oder käme eine oene Be-Hallo Hans-JürgDas Bundesamt für Gesundheit (BAG) empehlt die HPV-Impfung für Jugendli-che und jungen Erwachsene. Der ideale Zeitpunkt ist mit 11 bis 14 Jahren, vor Be-ginn der sexuellen Aktivität. Aber noch bis zum Alter von 26 Jahren kann die Impfung sinnvoll sein. Für vulnerable Gruppen kann eine Impfung auch im späteren Alter Sinn machen, denn auch dann kann sie ge-gen diejenigen HPV-Typen schützen, mit denen sich eine Person noch nicht ange-steckt hat. Ab 50 ist es in jedem Fall wich-tig, eine regelmässige Vorsorgeuntersu-chung gegen Prostata- oder Darmkrebs durchführen zu lassen. Genaue re Informa-tionen kann dir dein*e Ärztin geben. Er oder sie kennt deine Kranken geschichte und kann dich in einem persönlichen Ge-ziehung in Frage? Redet darüber und seid dabei oen und experimentierfreudig. Viel-leicht könnte auch eine Paarberatung hilf-reich sein. Dass sich dein Partner entschlos-sen hat, dir alles zu erzählen, ist ein erster Schritt. Es zeigt, dass auch ihm etwas an eurer Beziehung liegt. Jeder macht mal Feh-ler, die er im Nachhinein bereut. Wichtig ist, dazu zu stehen und den Partner nicht anzu-lügen. Informationen und Tipps zu Liebe und Beziehungen ndest du hier: https://drgay.ch/schwules-leben/freundschaften-beziehungen Alles Gute, Dr. Gayspräch entsprechend beraten. Bedenke bit-te, dass andere sexuell übertragbare Infek-tionen (STI) wie zum Beispiel Syphilis, Tripper oder Chlamydien bei fast allen Sexpraktiken übertragen werden können. Kondome schützen zuverlässig vor HIV, vor anderen STI aber nur sehr bedingt. Aus diesem Grund empfehle ich dir regelmä-ssige STI-Tests, auch wenn keine merkba-ren Symptome da sind. Hier ndest du Testempfehlungen: https://drgay.ch/safer-sex/testen-und-impfen/test-empfehlungen. Wissenswertes über HIV und andere STI und wie du dein Risiko beim Sex reduzie-ren kannst, steht hier: https://drgay.ch/ safer-sex/was-heisst-safer-sex Alles Gute, Dr. GayDR. GAYAuf drgay.ch findest du viele Infos und kannst eigene Fragen stellen. Hinter Dr. Gay stehen Mitarbeiter*innen der Aids-Hilfe Schweiz. Wir engagieren uns für die sexuelle Gesundheit von schwulen, bi & queeren Männern. drgay.ch drgay_official @drgay_officialCRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024wünscht dir ein Spannendes und Erfülltes 2024!cruiser

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34 35CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024CRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024RATGEBERDR. GAYMein Partner hat mir gestern gestanden, dass er sich von unbekannten Männern hat blasen lassen. Das kam völlig unerwartet, weil wir eigentlich eine monogame Beziehung haben. Er beteuert, dass das niemals wieder vorkommt, da ich sein absoluter Traummann sei. Wie kann ich mit dieser Situation umgehen? Joël (35)Ich bin 60 Jahre alt und gegen Hepatitis A und B geimpft. Da ich regelmässig zu Sexarbeitern gehe, möchte ich wissen, ob eine HPV-Impfung in meinem Alter noch ein Thema ist? Hans-Jürg (60)Hallo JoëlEine Situation wie du sie erlebt hast, kennen viele. Wenn Vertrauen missbraucht wird, ist es schwierig, dieses wieder aufzubauen. Aber es ist möglich. Als Erstes solltest du dich fragen, was du willst. Willst du der Beziehung nochmals eine Chance geben? Kannst du deinem Partner wieder ver-trauen? Lohnt es sich? Falls ja – und das lese ich aus deiner Frage heraus – könnt ihr ge-meinsam Regeln festlegen, an die sich beide zukünftig halten. Was sind deine Wünsche und Ansprüche an die Beziehung? Was seine? Gibt es vielleicht Möglichkeiten, euer Sexleben spannender zu gestalten? Wollt ihr Monogamie oder käme eine oene Be-Hallo Hans-JürgDas Bundesamt für Gesundheit (BAG) empehlt die HPV-Impfung für Jugendli-che und jungen Erwachsene. Der ideale Zeitpunkt ist mit 11 bis 14 Jahren, vor Be-ginn der sexuellen Aktivität. Aber noch bis zum Alter von 26 Jahren kann die Impfung sinnvoll sein. Für vulnerable Gruppen kann eine Impfung auch im späteren Alter Sinn machen, denn auch dann kann sie ge-gen diejenigen HPV-Typen schützen, mit denen sich eine Person noch nicht ange-steckt hat. Ab 50 ist es in jedem Fall wich-tig, eine regelmässige Vorsorgeuntersu-chung gegen Prostata- oder Darmkrebs durchführen zu lassen. Genaue re Informa-tionen kann dir dein*e Ärztin geben. Er oder sie kennt deine Kranken geschichte und kann dich in einem persönlichen Ge-ziehung in Frage? Redet darüber und seid dabei oen und experimentierfreudig. Viel-leicht könnte auch eine Paarberatung hilf-reich sein. Dass sich dein Partner entschlos-sen hat, dir alles zu erzählen, ist ein erster Schritt. Es zeigt, dass auch ihm etwas an eurer Beziehung liegt. Jeder macht mal Feh-ler, die er im Nachhinein bereut. Wichtig ist, dazu zu stehen und den Partner nicht anzu-lügen. Informationen und Tipps zu Liebe und Beziehungen ndest du hier: https://drgay.ch/schwules-leben/freundschaften-beziehungen Alles Gute, Dr. Gayspräch entsprechend beraten. Bedenke bit-te, dass andere sexuell übertragbare Infek-tionen (STI) wie zum Beispiel Syphilis, Tripper oder Chlamydien bei fast allen Sexpraktiken übertragen werden können. Kondome schützen zuverlässig vor HIV, vor anderen STI aber nur sehr bedingt. Aus diesem Grund empfehle ich dir regelmä-ssige STI-Tests, auch wenn keine merkba-ren Symptome da sind. Hier ndest du Testempfehlungen: https://drgay.ch/safer-sex/testen-und-impfen/test-empfehlungen. Wissenswertes über HIV und andere STI und wie du dein Risiko beim Sex reduzie-ren kannst, steht hier: https://drgay.ch/ safer-sex/was-heisst-safer-sex Alles Gute, Dr. GayDR. GAYAuf drgay.ch findest du viele Infos und kannst eigene Fragen stellen. Hinter Dr. Gay stehen Mitarbeiter*innen der Aids-Hilfe Schweiz. Wir engagieren uns für die sexuelle Gesundheit von schwulen, bi & queeren Männern. drgay.ch drgay_official @drgay_officialCRUISER JANUAR / FEBRUAR 2024wünscht dir ein Spannendes und Erfülltes 2024!cruiser

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HERR UND HERR PINGUIN: NATÜRLICH VERLIEBT.Foto: Zoo Zürich, Jean-Luc Grossmannzkb.ch/zooAls Kunde erhalten Sie Zoo-Tickets 20% günstiger exklusiv über unsere Website.ANZEIGE