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Gesellschaft CRUISER Edition September 2010
Während in Warschau die
Schwulenbewegung noch viel
Arbeit vor sich hat, zeigte sich
in der britischen Küstenstadt
Brighton das andere Extrem.
Mit 160 000 Besuchern war die
«Brighton Pride» eine der wohl
grössten europaweit. Und eine
Verbeugung an die Toleranz:
Die wenigsten der Besucher
waren schwul.
Preston Park am 7. August: Menschenmassen
drängten sich in die sonst idyllische Grünan-
lage, Musik dröhnte aus jeder Ecke, der ölige
Geruch von Fisch und Chips lag in der Luft und
in den Kinderzelten kreischte die nächste Ge-
neration vor sich hin. Moment – Kinderzelte?
Richtig, es ist die Brighton Pride, eine schwule
Parade, welchen ihren Abschluss (des Nachmit-
tags) im eingangs erwähnten Park fand – und
alle feierten sie mit.
Senioren wie Junioren tragen die Regenbogen-
agge – oder zumindest deren Farbe im Ge-
sicht. Und die Bierdose nicht zu vergessen. Bei
strahlendem Wetter wird das grösste Fest der
Stadt zelebriert. Mit 160‘000 Besuchern spra-
chen die Organisatoren von «the best Brighton
Pride ever».
Längst ist die dortige Pride von Heterosexuel-
len vereinnahmt worden. Die Toleranz gegen-
über Schwulen im Süden Englands kennt auf
den ersten Blick keine Grenzen, jedenfalls in
der Woche der Pride. Eine Veranstaltung jagt
die nächste, selbstverständlich alle unter dem
Decknamen «Gay-Pride». Jedes Pub zeigt Flagge
und bekennt sich zur Homosexualität. Oder
vielleicht doch nicht?
Wo waren die Schwulen?
Viel eher bekennen sich die Massen wohl zur
Party selbst. Was die Schwulenbewegung dort
jahrelang aufbaute, geriet mittlerweile ausser
Rand und Band. Und in die Kritik der Gay-Com-
munity selbst. Längst gibt es keine politischen
Kundgebungen mehr. Wer sollte denn auch zu-
hören? Die zahlreichen Familienväter, sie sich
bereits morgens mit Federboa um den Hals die
Kante geben? Die unzähligen Jugendlichen, wel-
che das Billig-Bier vom Supermarkt mit in den
Park nehmen? Die schicken Bio-Familien, die
mit ihren Kinderwagen jeden Durchgang in ei-
nen Hindernislauf verwandeln? Schwule jeden-
falls galt es im Preston Park zu suchen. Zugege-
ben, das Party-Zelt einer Gay-Disco platzte aus
allen Nähten, aber drum herum? Fehlanzeige.
Zu Recht wird nun das Organisations-Komitee
ausgewechselt, die ganze Schose soll hinter-
fragt werden.
Brighton gilt als schwulste Stadt des Vereinig-
ten Königreichs. 20 Prozent der Bevölkerung,
so wird gemunkelt, sollen dort die gleichge-
schlechtliche Liebe bevorzugen. Nicht umsonst
spr ic ht ma n auc h vom br itischen San Fra ncisco.
Und so sind Brightons Schwule und Lesben ziem-
lich akzeptiert, jedenfalls dann, wenn sie eine
Party auf die Beine stellen. So wird in etwa der äl-
teste Schwule der Stadt eigens zelebriert bzw. er
darf die Parade auf seinem Rollstuhl anführen.
Was ein CSD nie sein wollte
Ansonsten gleicht die rechtliche Situation etwa
der in der Schweiz: Eine Hochzeit-light und kei-
ne Chancen auf Adoption. Trotzdem ist die To-
leranz der Heterosexuellen in Brighton durch-
aus zu würdigen. Aber die Pride wurde das, was
ein CSD eigentlich nie sein sollte: ein Karneval
für die Massen. Ganz ohne Sinn, einfach nur
Party. Man könnte die Pride in etwa mit dem
Berner Gurten-Festival vergleichen, nur das
dort Schwule offen rumlaufen dürfen, ohne
verprügelt zu werden (oder bis gewisse Leute
sich in die Aggression saufen).
Die Party im Preston Park dauerte bis acht Uhr
abends. Danach zog Mann, Frau und Kind weiter
an die St. James Strasse: Dasselbe in Blau, sozu-
sagen. Der Preston Park glich danach übrigens
einer riesigen Müllhalde. Es dauerte zwei Tage,
bis er wieder einigermassen begehbar war.
Fortsetzung von Seite 7
Von Anfeindung über Skepsis bis zu grosser Sympathie begegnete einem
an diesem Tag so ziemlich jede Emotion. Und interessanterweise standen
die Blutten hier für einmal nicht in der Parade, sondern auf den unzähli-
gen Balkonen entlang der Route. Warschau ist offenbar die Stadt, wo man
an heissen Sommertagen grundsätzlich nur Unterwäsche trägt – mit Vor-
liebe Modelle aus der Sowjetzeit.
Feiern und Flaggen verbrennen.
Warschau ist kein kommunistischer Moloch. Es ist überraschend hübsch.
Die Leute sind reserviert, aber freundlich. Das Essen ist nicht so schwer
und fettig, wie man glaubt, und ein paar Restaurants können locker mit
denjenigen in Berlin, London und Paris mithalten. Die Gayclubs haben
etwas Unverbrauchtes, ein paar der Jungs erfreulicherweise auch. Die
Prachtstrasse ist echter Jugendstil, wenn auch nach der Bomberei wieder
aufgepeppelt und ein paar der Shops haben erf reulicher weise auc h sonn -
tags geöffnet. Das Soft-Ice wird zu penisförmigen Türmen aufgebaut und
so kann man vergnügt zuschauen, wie Familienväter an etwas lutschen,
was wie das Geschlechtsteil eines Schwarzafrikaners aussieht.
Warschau geht aber auch unter die Haut. Vor dem Pride House, einem
Kulturzentrum, das zum zentralen Treffpunkt umfunktioniert wurde,
standen Plakate, die über die Situation von Schwulen und Lesben auf
der ganzen Welt informierten. Und zu jeder Tageszeit blieben Passanten
stehen, um zu lesen. Sie lasen über Dinge, von denen sie noch nie gehört
hatten. Über Themen, die Jahrzehnte totgeschwiegen wurden. Zum er-
sten Mal vermutlich sahen sie eine Karte, auf der eingezeichnet war, in
welchen Ländern auf Homosexualität die Todesstrafe steht. Und sie blie-
ben vor der Karte stehen, länger als je einer in Zürich stehen bleiben wür-
de. Doch auch hier werden die Gegensätze deutlich. Während drinnen
am Abend ein bunter Mix aus Heteros und Homos bei weit über 50 Grad
und maximaler Luftfeuchtigkeit fröhlich feierte, versuchte draussen ein
Grüppchen eine Regenbogenfahne zu verbrennen. In einem Café, das sich
fürs Wochenende eine Rainbowag ins Fenster gehängt hatte, riss ein
fetter Typ sie raus, zerbrach sie und warf sie auf den Boden. Und während
wir betreten daneben sassen, stürzte der junge Kellner raus und las dem
Randalen die Leviten – mehr noch, er rief zwei Security-Leute und drohte
mit der Polizei. Vielleicht, dachten wir danach, hätten wir aufstehen und
uns dem Kellner anschliessen sollen. Denn dafür waren wir ja nach War-
schau gekommen. Um zu protestieren.
Doch wir sind es nicht gewohnt, auf diese Weise für unsere Rechte einzu-
stehen, zu handeln, nicht bloss zu denken oder zu reden. Vielleicht ha-
ben wir es schlichtweg verlernt, schwule Wohlstandsverwahrlosung. Auf
alle Fälle hat Warschau geholfen, die politischen Batterien aufzuladen.
Denn Warschau ist nicht bloss eine Stadt irgendwo im Osten. Warschau
ist der Rest der Welt, wo Schwule und Lesben noch immer unterdrückt,
verfolgt, gefoltert werden.
Und Warschau hat gezeigt: Es gibt noch viel zu tun.
Brighton Pride
– Karneval der
Massen
Längst ist die dortige Pride
von Heterosexuellen verein-
nahmt worden.
Von Daniel Diriwächter